Die Hoffnung aus der Vergangenheit. Sabine von der Wellen
Der Ort, an dem es stand, war zu meiner Überraschung keine 30 Km von dem Ort entfernt, in dem auch mein biologischer Vater lebt.
Ich beschloss, auch ihn in mein Leben zu zwingen. Schließlich hatte er mich gezeugt. Und ich erhoffte mir von ihm ein paar Antworten auf die Fragen, die wegen meiner Träume und diesem Kurt an mir nagten. In den Büchern des Alchemisten stand geschrieben, dass sich dieses Phänomen auf alle seine Nachkommen bezieht und mein Vater ist schließlich Kurt Gräblers Enkel!
Aber erst als ich neunzehn war, und mein Abitur sowie meinen Führerschein in der Tasche hatte, befreite ich mich aus den Klauen meiner Mutter. Ich begab ich mich nach Osnabrück, um die zwei Personen zu finden, die ich dort zu finden hoffte. Carolin und meinen Vater. Dass ich dort aber auch auf meinen Halbbruder Julian stoßen würde, ahnte ich damals noch nicht und auch nicht, dass er der junge Mann aus meinen Träumen war, der unser Leben beenden wollte.
Ich wusste zu der Zeit vieles nicht und wenn ich es gewusst hätte … vielleicht wäre ich in Wolfsburg geblieben. Ich wäre eventuell glücklicher geworden, wenn ich mich von Carolin und ihrem Leben ferngehalten hätte. Mir wäre zumindest erspart geblieben, dass meine einzige Liebe mich hintergeht und ablehnt. In meinen Träumen war sie mir wenigstens sicher gewesen. In der Realität nicht.
Familienbande
Ich verließ im April, also vor acht Monaten, Wolfsburg und zog in ein kleines Hotel in Alfhausen, einem kleinen Nachbarort in der Nähe der Bauernschaft, in der das Haus des Alchemisten steht. Ich war mir zu diesem Zeitpunkt nicht mal sicher, ob ich das Mädchen aus meinen Träumen wirklich jemals finden kann. Schließlich war sie eine Traumfigur, wie Kurt und Sonja. Aber die hatte es offensichtlich vor Jahrzehnten wirklich gegeben. Darum hoffte ich, dass es das blonde Mädchen genauso gibt. Aber so sehr ich sie mir auch in diese Welt wünschte, so sehr hatte ich auch Angst, dass sie dann wirklich dieser Gefahr aus meinen Träumen ausgesetzt sein könnte und meine Träume unsere Zukunft voraussagten, wie sie auch schon die Vergangenheit von Kurt Gräbler widergespiegelt hatten.
Als erstes suchte und fand ich das Anwesen, dass einst dem Alchemisten gehört hatte. Ich legte mich einige Tage auf die Lauer, um herauszufinden, wer es bewohnte. Es gab dort ein älteres Paar und ich sah einen jungen, dunkelhaarigen Mann, der viel mit seinem Rennrad herumfuhr. Mehr sah ich anfangs nicht. Doch dann kam eines nachmittags ein junges Mädchen auf ihrem Fahrrad zu dem Haus gefahren. Sie stellte es an einen der riesigen Buchen vor dem Haus ab und klingelte an der Tür. Und dann sah ich sie. Sie öffnete dem Mädchen und sie gingen zusammen in den Garten. Ihre hellblonden Haare leuchteten in der Sonne und ich hörte ihr glasklares Lachen.
So fand ich damals heraus, dass es wirklich dieses Mädchen in dem Haus des Alchemisten gab und ich war mir vom ersten Blick auf sie sicher, dass sie die richtige sein muss. Warum ich das glaubte, war mir da noch nicht klar. Zu der Zeit ahnte ich nicht mal, dass Carolin auch mit dem Alchemisten Kurt Gräbler verwandt ist und er genauso ihre Träume bestimmt, wie auch meine. Ich wusste nur, dass sie in seinem Haus lebt und das schien mir die einzige Verbindung von ihr zu dem Alchemisten zu sein. Als ich später erfuhr, dass sie auch mit ihm verwandt ist und von ihm träumt, da wusste ich, dass sie die eine ist, die zu mir gehört.
Aber damals wusste ich noch gar nichts. Tagelang hatte ich mich auf die Lauer gelegt und war sogar einige Male mit dem Schulbus nach Ankum gefahren, um mehr von ihr zu erfahren. Ich verschanzte mich in den hintersten Sitzreihen und wartete, bis sie an ihrer Haltestelle einstieg und an der Schule wieder ausstieg. Ihre Freundin Christiane war zu der Zeit immer an ihrer Seite. Damals ahnte keiner von uns, dass sich ihre Freundschaft nur wenige Wochen später in Luft auflösen würde … und zwar durch meine Schuld.
Auch andere Mädchen aus dem Bus kannten Carolin. So erfuhr ich das ungeheuerliche, dass mir erneut vor Augen führte, dass meine Träume real waren. Das Mädchen hieß tatsächlich Carolin.
Es erschütterte mich Anfangs, dass alles so erschreckend zutraf. Nicht nur, dass es Carolin wirklich gab und dass sie dem Mädchen aus meinen Träumen wirklich glich, sondern auch, dass ich aus einer Eingebung heraus ihr einen Namen gegeben hatte, der auch noch zutraf.
Doch dann wurde mir klar, dass dieser Alchemist Unglaubliches geleistet hatte. Er hatte sich nicht vor dem Tod bewahrt, wie er gehofft hatte. Aber er hatte es geschafft, sich in mir zu bewahren, und er hatte mich zu Carolin geführt. Damals wusste ich nur noch nicht, warum.
Ich beschloss sie anzusprechen. So fuhr ich eines Morgens mit einem der früheren Busse nach Ankum und nutzte die kurze Fahrzeit, einige Erkundigungen über Carolin einzuholen, die mir die gesprächigen Mädels gerne gaben. Ich fragte nach dem Haus, das sie mit ihrer Familie bewohnte, und mir wurden gleich die wildesten Geschichten offenbart. Man erzählte mir, dass dieses Haus lange als verflucht galt und nur, weil die Maddisheims es nun schon einige Jahre bewohnen, legte sich etwas die Angst vor dem, was in dem Haus angeblich lauerte. Und ich erfuhr, dass Carolin in die Hauptschule ging, und nicht, wie ihre Freundin Christiane, in die danebenliegende Realschule, und dass Carolin einen Bruder hat. Für mich war das mit den verschiedenen Schulen ein Umstand, der mich freute. Ich konnte somit darauf hoffen, sie allein anzutreffen, denn ich wollte ihr endlich ins Gesicht sehen. Was ihren Bruder anging …, der interessierte mich zu dem Zeitpunkt nicht die Bohne, auch wenn die Mädchen damals bei seiner Erwähnung ganz hibbelig wurden.
Eines Tages raffte ich meinen ganzen Mut zusammen und platzierte mich an ihrer Schule. Ich weiß noch, wie übel mir vor Aufregung war, als ich mich an einen der Bäume lehnte, die den Schulhof umsäumten. Ich wusste, dass sie dort vorbeikommen würde und als sie dann wirklich auf mich zukam, war ich froh, dass ich mich an einen Baum lehnen konnte.
Ich weiß auch noch, wie sie mich angesehen hatte, bevor sie mich erreichte. Unsere Blicke trafen sich einfach, als gäbe es nichts anderes auf der Welt, was sie erfassen konnten. Schwarze Augen versanken in blaugrüne. Und ich sah dieses Gesicht zum ersten Mal ganz klar und wunderschön vor mir, umrahmt von den blonden Haaren und mit vielen kleinen Sommersprossen. Aber das Highlight waren ihre großen Augen mit den schwarzen Augenwimpern und den dunklen Augenbrauen, die so im Kontrast zu ihren hellen Haaren standen.
Als sie mich erreichte und an mir vorbeigehen wollte, brachte ich ein „Hallo“ zustande, dass sie mit leicht unsicherer Stimme erwiderte. Und dann verschwand sie aus meinem Blickfeld und es war vorbei. Aber ich wusste, sie ist es - die eine aus meinen Träumen, die in mein Herz sehen kann und die mich verstehen wird.
Und ich wollte sie retten, was immer es auch kosten würde. Das Böse durfte sie nicht bekommen. Und es gab dieses Böse wirklich, das ich in meinen Träumen gesehen hatte, und es wollte unseren Tod.
In meinem Kölner Hotelzimmer ziehe ich mir ein T-Shirt und eine Short an, und steige frierend unter die kalte Decke des Hotelbettes. Die Bilder von Carolin lege ich auf das Kissen neben mir. Es ist erschreckend leise in dem Zimmer, in das nicht mal der Kölner Großstadtlärm dringt und in meinem Magen rumort das Essen, das wir bei unserer Abschiedsfeier vor wenigen Stunden gegessen hatten. Ich muss mir immer wieder vergegenwärtigen, dass die Musicaltour nun unwiederbringlich vorbei ist.
Mich packt erneut die Traurigkeit, weil ich in diesem Hotelbett liege, statt bei Carolin zu sein. In meinem Kopf laufen die Bilder von unserem ersten Treffen an ihrem Schulhof erneut ab und ich sehe sie noch einmal an mir vorbeigehen, ihren Blick verunsichert in mein Gesicht geheftet.
Für mich war dieses erste Treffen eines unserer Highlights und ich wollte sie wiedersehen, mit ihr sprechen und ihr alles von mir erzählen. Sie sollte erfahren, was sie mir bedeutet und ich wollte sie beschützen. Mit meinem ersten Blick auf sie wusste ich, dass ich die eine für mich gefunden hatte. Sie sollte es sein.
Jetzt, in diesem Bett liegend, so weit weg von ihr, kann ich nicht verstehen, was mit uns passiert ist. Warum hatte sie sich letztendlich gegen unser Schicksal entschieden? Und wann hatte sie damit angefangen, sich gegen den Alchemisten, der auch in ihr schlummert, zu wehren? Warum hatte Kurt das, was geschah, nicht verhindert?
Das sind Fragen, die ich mir in den letzten Wochen immer wieder gestellt habe und mir auch heute wieder stelle, wo ich alles noch einmal Revue passieren lasse.
Ich beobachtete