Federträger. Yves Holland
immer noch an diesem unansehnlichen Fleck herum und war keinen Fuß weitergekommen mit der Plane. „Entschuldige, Mome Ira“, murmelte er stotternd, „ich bin gleich fertig.“
Ira blickte ihren Sohn lange mit einem sonderbaren Blick an, seufzte dann leise, schüttelte den Kopf und ging, ohne einen weiteren Rüffel verteilt zu haben, ihrer Wege. Fandor sah ihr erstaunt nach. Er hatte bei Jooba keine Ahnung, was das nun wieder bedeuten sollte.
Huson war dem eintönigen Restaurieren und Säubern der Papyrusrollen entkommen! Er konnte es noch gar nicht fassen, dies war ein echter Glückstag für ihn. Bruder Pak hatte den Novizen nach der Hochsonnandacht mit der Aufgabe betraut, der Edlen Malvea von Grünberg eine Botschaft zu überbringen.
Huson, dessen Augen verräterisch zu leuchten begannen, als Bruder Pak ihm den Brief für Malvea übergab, senkte rasch den Blick, damit Pak nicht sehen konnte, wie sehr er sich über diesen Auftrag freute. Dabei war sich Huson nicht einmal sicher, ob Pak daran überhaupt etwas schlimm gefunden haben würde. Es war Husons eigene Ansicht, dass ihm als Novizen keine Vergnügungen zustünden, und er legte sich gleich zur Buße eine halbe Stunde mehr Kampftraining für den Abend auf. Und daran würde er festhalten. Aber später. Jetzt ging es zuerst in die Stadt!
Leichtfüßig sprang Huson den in der Nachmittagssonne liegenden Berg hinunter, auf dessen Gipfel die Klostermauern steil und beeindruckend gen Himmel ragten. Die Klosteranlage lag auf einem einzeln vorgelagerten Berg, der zwar schon zur Kette der Himmelsberge gehörte, diese jedoch nach Norden hin begrenzte, und zur Stadt durch einen kleinen Taleinschnitt getrennt war. Grünberg selbst lag auf dem ersten der dicht aneinander gedrängten Felsen, welche das eigentliche Himmelsmassiv bildeten.
Huson hatte die Kutte etwas gerafft, um schneller laufen zu können, denn er wollte keine Zeit in der Natur verlieren, die ihn nicht so sehr interessierte wie die Stadt, in der es immer etwas Interessantes zu sehen und zu entdecken gab. Er war schon leicht außer Atem, als er über die Brücke rannte, die über das Grüntal führte, aber er nahm den erneuten Anstieg zur Stadt in Angriff, ohne eine Pause eingelegt zu haben.
Hier vor den Stadtmauern war die Straße schon ziemlich voll. Überall rollten Fuhrwerke mit allerlei Gütern, die reisende Händler in die Stadt brachten oder aus Grünberg ausführten, um mit ihnen in andere Städte zu fahren oder entlegene Bauerngüter oder Bergdörfer zu besuchen.
Huson half einem Mann mit Fuhrwerk, dessen Pferd kaum die Bergstraße hinaufkam, den Wagen zu ziehen, denn die letzten fünfhundert Fuß vor dem nördlichen Stadttor waren sehr steil. Der Mann, ein einfacher, schlicht in braunes Tuch gekleideter Bauer von einem der Stadt vorgelagerten Höfe im Grüntal, freute sich sichtlich, dass Huson ihm seine Hilfe anbot. Er knurrte aber trotzdem nur einen mageren Dank in seinen Bart, über den Huson sicher enttäuscht gewesen wäre, wenn er nicht bereits von seinen diversen Ausflügen in die Stadt gewusst hätte, wie wortkarg die Bauern des oberen Grüntals eben nun einmal waren. Ein geknurrter Dank aus einem Bauernmund war schon eine kleine Ehrerbietung, das war Huson klar, und so lächelte er, als sie oben angekommen waren und der Bauer mit seinem Karren wieder seiner eigenen Wege ging.
Huson überlegte schnell, was er nun machen sollte.
Er entschied sich, zuerst die Botschaft zu Malvea von Grünberg zu bringen und dann ein wenig durch die verlockend riechenden Gassen und über die bunten Marktplätze mit ihren Gauklern und Sängern zu gehen.
Nachdem Huson die mürrische Stadtwache passiert hatte, die ihm leicht zunickte, ging er die Anhöhe zum Hause derer von Grünbergs hinauf, wo er noch einmal nachlässig kontrolliert wurde. Man kannte ihn hier bereits. Er wurde in die Halle vorgelassen, wo er nach einigen Momenten des Wartens von der jungen Malvea von Grünberg, der Tochter des Stadtherren Olerich von Grünberg, begrüßt wurde. Sie kam wenig damenhaft die große Treppe heruntergesprungen und rief schon von ganz oben: „Huson, schön dich zu sehen.“
Ihre langen, glatten, offen getragenen braunen Haare wehten hinter ihr her, und ein aufrichtiges Lächeln spielte um ihre edlen Gesichtszüge, die denen des Stadtherrn, Olerich von Grünberg, so ähnlich waren. Huson strahlte sie an. Er kam gerne hierher, um Botengänge zu machen, denn die Edle Malvea behandelte ihn immer sehr nett. Er fühlte sich willkommen in ihrer Nähe.
Sie winkte ihm näher zu kommen, und in ihren hellbraunen, fast bernsteinfarbenen Augen blitzte der Schalk. „Setz dich und trink einen Krug Wein mit mir.“ Huson strahlte noch breiter. Dankbar setzte er sich. Das Haus des Stadtherren war prächtig eingerichtet, und die Stühle waren weich gepolstert, luden ein zu Gemütlichkeit und Muße, nicht so wie die harten Holzbänke im Kloster. Der Raum war angenehm kühl.
Malvea bot ihm immer Wein an, denn sie wusste, dass Huson im Kloster öfter mit Wasser als mit Wein verköstigt wurde. Hier, so fand sie, sollte er es sich gut gehen lassen. Im Kloster konnte er dann wieder karger leben, so wie sich das für einen Novizen gehörte.
Huson übergab Malvea den Brief von Bruder Pak. Malvea schlug ihn sofort auf und las ihn rasch. Interesse war in ihren Augen zu sehen. „Eine alte Rolle? So, so...“, murmelte sie vor sich hin und strich sich gedankenverloren mit der Schreibfeder, die auf dem Tisch bereitlag, über die Lippen. Dann schrieb sie gleich eine Antwort auf die Rückseite des Briefs, wedelte die nasse Tinte trocken und gab ihn Huson zurück. „Ich komme morgen früh. Die Sache interessiert mich. Ein Schriftstück, das Bruder Pak alleine nicht entziffern und übersetzen kann? Das muss ja etwas ganz Besonderes sein!“
Huson trank gerade einen Schluck von seinem wirklich vorzüglichen Wein – er hatte auch nicht anderes erwartet im Hause des Stadtherren –, als sie beide gleichzeitig den Tumult draußen bemerkten.
Sie standen hastig auf und liefen in die Vorhalle, wo ihnen Brom von Bordur, der hünenhafte, breitschultrige Erste Wachmann der Stadtgarde, entgegeneilte. Er grüßte hastig nickend Malvea zu und stürmte sogleich in Richtung Olerichs Arbeitszimmer. Das Schwert an seiner linken Seite klapperte heftig bei jedem seiner großen Schritte, und das Metall an seiner Uniform blitzte kurz auf, als er durch einen Sonnenkegel lief. Ein leichter Geruch von Schweiß blieb in der Luft hängen, als der große, flachsblonde Mann fast gleichzeitig an die Tür des Arbeitszimmers des Stadtherrn klopfte, sie öffnete und ohne zu zögern mit seiner wichtigen Botschaft herausplatzte:
„Herr, es werden Kämpfe weit draußen im Süden vor der Stadt gemeldet.“ Sein sonst volltönender Bass dröhnte etwas heiser vor Aufregung aus dem Raum hinaus durch die Halle. „Man sagt, es seien schwarze Reiter gesichtet worden, die auf Grünberg zureiten!“
Thorn und Fandor waren in edlen, leuchtend blau gefärbten Stoff gekleidet worden, ebenso die Handvoll anderer Halbwüchsiger, die wie die beiden in dieser Nacht ihre Schwerter überreicht bekommen würden. Stolz und unsagbar nervös standen sie abseits des Getümmels, das auf dem Festplatz inmitten des Clanlagers während der letzten Tage entstanden war. Große Familien waren angeritten gekommen, alle prächtig gewandet und mit Geschenken im Gepäck für die anderen Clans sowie für die Götterbeschwörung heute zur Mittnacht.
Fandor und Thorn hatten zwar schon viele Sonnwendfeiern mitgemacht, aber dieses war ihr Sonnwendfeuer, es war ihre Weihe, es war ihre Nacht!
Das für die nächsten Tage angesetzte Thing interessierte sie heute nur sehr am Rande, denn in dem Stammes-Thing waren sie sowieso nicht geduldet. Da durften nur die Obersten, ihre ältesten Söhne und die Stellvertreter teilnehmen.
Fandor und Thorn wollten feiern, und mit ihnen wollten das alle der etwa fünftausend gekommenen Gäste. Die Politik überließen sie gerne den Clanführern, denn heute und die nächsten Tage würde es Habermet, gegorenen Traubensaft, Hamlfleisch überm offenen Feuer geröstet, Honiggebäck und eine Menge anderer Leckereien geben, die die Frauen schon seit Wochen vorbereitet und für diese Feierlichkeiten auch streng unter Verschluss gehalten hatten.
Manche der Männer standen in Gruppen herum und führten ernste Gespräche, aber die Mehrheit der Anwesenden freute sich erst einmal auf die Sonnwendfeier am Abend.
„Was denkst du schon wieder?“, grinste Thorn seinen besten Freund und Bruder an. „Ich hab dir ja gesagt, du würdest es bekommen.“ Er strich zum sicherlich hundertsten Mal