Transkription. Christoph Papke

Transkription - Christoph Papke


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phantastischen Traumbildern sowie hervorragender Musik aufwartete, verlor der Hauptprotagonist zuerst seine Arbeit, dann sein Haus, schließlich als Patient einer geschlossenen Nervenklinik Frau und Kinder, letztlich sein Leben. Der Film trug den Titel „IRR-TUM“, Hartmann hatte sich schon seit Wochen auf den Besuch dieses Streifens gefreut.

      Wachen Auges, aber um offensichtliche Gelassenheit bemüht, betrat Hartmann das Lichtspielhaus. Er fragte sich, ob ihm der Kartenabreißer vielleicht eine geheime Botschaft zustecken würde, eventuell in Form eines aufgeschwatzten Programmheftes oder einer Eintrittskarte, die aus irgendwelchen Gründen gegen seine getauscht werden musste. Was war mit der Frau, die allen Kinobesuchern die 3-D-Brillen ausreichte? Nein, die freundliche Dame übergab Hartmann zwar lächelnd die Brille, wünschte aber außer guter Unterhaltung keine weitere Ansprache, sondern wandte sich den nächsten Besuchern zu. Vielleicht nahm Titec auch als harmloser Besucher der Veranstaltung verkleidet neben oder hinter ihm Platz. Nein, schloss Hartmann diese Möglichkeit aus, neben ihm würde das nicht klappen, die unmittelbaren Nachbarplätze waren an ebenso wie er in der Öffentlichkeit stehende Personen vergeben - Presse- und Filmleute sowie Politiker. Böte sich noch eine Chance in der Reihe direkt hinter ihm. Oder auf der Toilette. Hartmann begab sich, bevor er seinen Platz einnahm, vorsichtshalber zum stillen Örtchen. Außer einem „Ach, Sie auch hier, wie geht’s?“ auf der einen Seite der Urinale und einem zuversichtlichen Nicken auf der anderen konnte er keinerlei Kontaktanbahnung erkennen. Beim folgenden Händewaschen ließ er sich unverhältnismäßig viel Zeit, riskierte dabei sogar einen Blick in Richtung Kabinen. Würde sich eine Tür öffnen, könnte er den Detektiv vermutlich auf Anhieb identifizieren. Obgleich man nur einmal miteinander telefoniert hatte, wusste Hartmann, wie der Privatermittler aussah. Auf dem vom Verein ins Internet gestellten Mannschaftsfoto sowie in einem Portal, das neben dem sportlichen Werdegang auch Gewicht und Größe höherklassig spielender Fußballer veröffentlichte, war der Privatdetektiv abgelichtet. Titecs Körpergröße war mit 1,84 Meter angegeben, sein Gewicht mit 80 Kilo, stattliche Maße, nicht nur für einen Fußballspieler. Hartmann musste den Toilettentrakt allmählich verlassen, wollte er nicht auffallen. Außerdem begann der Film in Kürze. Auf dem Weg zu seinem Platz überschlug er rasch die nächsten Chancen einer Kontaktaufnahme. Während der sich an die Vorführung anschließenden Pressekonferenz würden Massen von Fans, Reportern, Schauspielern und anderen Filmleuten eine ziemlich perfekte Kulisse für mehr oder minder zufällig zustande gekommene Plaudereien bilden. Titec könnte sich dort völlig unauffällig anschleichen, in kürzen Zügen das sagen, was es zu sagen gab, und die ihm zugedachte Kohle einstecken. Bei dem Gedanken an ein mögliches Treffen lief es Hartmann heiß und kalt den Rücken herunter. Angst mischte sich erneut mit einem eigenartigen Gefühl von schauriger Abenteuerlust. Als sich nach den einführenden Worten der Filmschaffenden endlich der Vorhang öffnete, setzte Hartmann die Kinobrille vor seine eigene und war innerhalb weniger Minuten Gefangener einer großartigen Aufführung.

      Mitten im Filmgeschehen, es mochten 45 Minuten vergangen sein, nahm Hartmann eine den Ton im Saal überlagernde Stimme wahr. „Wie gefällt Ihnen der Film?“

      Hartmann schreckte auf. „Drehen Sie sich nicht um“, wurde er aufgefordert, „bleiben Sie ganz ruhig, ich bin in Ihrem Ohr!“

      Ein kurzer Blick nach rechts und links verriet, dass Hartmanns Nachbarn von der Stimme in seinem Ohr nichts mitbekamen. „Die 3-D-Brille, die Sie tragen, ist technisch manipuliert. An den Bügeln befinden sich kleine Lautsprecher, das Prinzip kennen Sie von Hörgeräten, sie sorgen dafür, dass Sie mich hören.“

      Die Stimme gehörte definitiv Ömer Titec, Hartmann kannte sie vom Telefonat. „Wenn die Verbindung korrekt ist und meine Signale bei Ihnen einwandfrei ankommen, husten Sie kurz einmal!“

      Hartmann führte seine geballte Faust zum Mund und räusperte sich kurz und laut. „Ich danke Ihnen“, hörte er weiter, „Kommen wir zu Ihrem Auftrag. Ihr Autor, dieser Gernot Lammroth, ist ein wirkliches Früchtchen. Tatsächlich hat er bei der Stasi gearbeitet. Klein angefangen, schnell aufgestiegen und Karriere gemacht. Er war ein absoluter Abhörspezialist und im Ministerium für Staatssicherheit die Koryphäe für computergestützte Textanalysen. Wo er sich jetzt aufhält, war nicht herauszubekommen.“

      Hartmann hob fragend die Arme.

      „Unterlassen Sie solche Gesten“, vernahm er einen Befehl, „und hören Sie weiter zu! Allem Anschein nach interessieren sich außer Ihnen noch andere Menschen für Lammroth, böse Menschen, böse und gefährlich. Böse deshalb, weil diese Menschen nicht Gutes im Schilde führen. Und gefährlich, weil sie allem Anschein nach vom Staat gedeckt werden. Jetzt schauen Sie nicht so bedröppelt, so deprimierend ist der Film nun auch nicht! Ob Ihr Autor noch lebt und wenn wo, habe ich bisher leider nicht herausbekommen können. Nur, dass jeder, der sich momentan für ihn interessiert, Gefahr läuft, sein Interesse mit dem Leben zu bezahlen. Die Burschen, diese bösen Menschen, von denen ich spreche, schrecken vor nichts zurück, auch nicht vor Mord.“

      Hartmann war es nicht möglich, seinen Blick auch nur einen Zentimeter von der Leinwand weg zu bewegen. Wie gebannt starrte er nach vorn. Nach einer kleinen Pause vernahm er die Stimme erneut in den Ohren: „Wenn die Geschichte damit für Sie beendet ist, übergeben Sie meinem Homie Anselm 1.880 Euro, er wird mir den Auslagenersatz aushändigen. Eine Rechnung möchte ich aus Gründen des Eigenschutzes nicht stellen, sorry! Falls Sie wünschen, dass ich mich weiter um die Angelegenheit kümmere, händigen Sie die Brille bitte beschädigt an die junge Kinoangestellte aus, von der Sie das gute Stück erhalten haben, ein Bügel kann immer mal abbrechen. Die junge Frau sammelt die 3-D-Brillen der Kinobesucher am Ausgang wieder ein. Sollten Sie das letztere tun, bedenken Sie jedoch, dass die Angelegenheit auch für Sie ungemütlich, vielleicht sogar tödlich ausgehen kann! Sie haben jetzt ungefähr noch eine Stunde Zeit zum Überlegen, das müsste reichen. Der Hauptdarsteller des Films spielt übrigens klasse, finden Sie nicht auch?“

      Die Stimme im Ohr war verschwunden. Hartmann versuchte sich zu konzentrieren. Prozesse der Risikoabwägung waren ihm vertraut, Kalkulationen von Gewinn- und Verlustrechnungen auch. Sollte er Anselm Fischer das Geld in die Hand drücken mit einem schönen Gruß an dessen Kumpel? Dann wäre die Angelegenheit vermutlich vom Tisch. Für immer und ewig. Eine Option, die er bereits zur genüge durchkalkuliert hatte. Oder sollte er seinem journalistischen Instinkt folgen, der mehr denn je eine Sensation witterte. Hartmann wägte weiter ab. Was gab es auf der Grundlage der vorliegenden Fakten zu gewinnen, was zu verlieren? Verlieren konnte er mit der einmaligen Abfindung des Detektivs seine eigene Glaubwürdigkeit als Förderer und Verfechter des investigativen Journalismus, seine Vorbildfunktion als Wächter der Meinungs- und Pressefreiheit. Verlieren konnte er allem Anschein nach aber auch sein Leben. Hartmann stand vor einem Dilemma, das mit den gewohnten Rechenoperationen nicht aufzulösen war. Gewinnen konnte er – eigentlich gar nichts. Außer der konsequenten Einhaltung berufsethischer Grundsätze, die eine kritische Haltung allen staatlichen Aktivitäten gegenüber einschloss. Und der Verpflichtung, Unrecht nicht zu dulden, es ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren, sofern überhaupt Unrecht an Gernot Lammroth verübt worden war. Das mögliche Sensationsskript ließ sich auch nicht auf der Habenseite verbuchen, schließlich wusste man ja nicht, ob es überhaupt existierte. In Hartmanns Kopf ging es hin und her.

      Die Zeit verging zu schnell, der Film näherte sich dem Ende. Einstein, so schien es Hartmann, hatte recht mit seiner Theorie von der Relativität der Zeit. Hartmann verspürte immensen Zeitdruck. Was, wenn dieser Ermittler, dieser Titec sich nur wichtigmachen und einfach noch mehr Kohle abgreifen wollte? Wenn der Kerl eine gewinnbringende Legende um die Person Lammroth gesponnen, alles nur erfunden hätte? Hartmann wusste aus seiner jahrelangen Erfahrung, dass vor allem Entscheidungsfreude gute Manager von schlechten unterschied, dass selbst eine verkehrte Entscheidung einer verpassten vorzuziehen war, wollte man Erfolg haben. Also riss er den linken Bügel der Kinobrille vom Gestell, noch ehe der Abspann abgelaufen war. Aber war seine Entscheidung richtig? Hatte er richtig abgewägt?

      Während er sich zum Ausgang begab, überlegte er einen Augenblick, die Brille doch noch in die Tasche zu stecken, sie einfach nicht abzugeben. Keine Brille, kein eindeutiges Zeichen. Zeitaufschub, um nachts im Hotel ein paar Runden auf dem grauen Teil zu drehen. So ein Quatsch, entschied er letztlich, als die junge Frau in Sichtweite kam. Mit einem freundlichen Lächeln reichte er Gestell


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