BLICK AUF DEN NIL. Karim Lardi
ungezähmten Wildnis. Meine Entscheidung war ein furchtbarer Schock für die ganze Familie.“
„Mädchen! Bist du dir im Klaren über die Tragweite deiner Entscheidung? Weißt du was du dir damit antust?“, fragte mich meine Mutter unter Tränen.
„Bedenke den Weg, über den Frauen gehen müssen, bevor sie die Aussicht haben, ein Mensch zu werden!“, warnte mich meine überängstlichste Tante Alice scharfzüngig. Ihr schlimmster Albtraum war schon immer eine Reise in den Orient gewesen, wo die armen Frauen beschnitten und dem finsteren Unheil der wilden orientalischen Männerwelt ausgeliefert werden. Sie würde sich lieber ans Kreuz nageln lassen, als sich in den Orient zu begeben. Der ganze Orient müsste, ihrer Meinung nach, in therapeutische Behandlung gehen und seine dunklen Seiten ausleuchten lassen.
„Lass dich bloß nicht radikalisieren, sagte sie als sie dann sah, dass ich meine Entscheidung nicht mehr revidieren würde und dass ihr urfreudianischer Quatsch nicht fruchtete.“
„Genau wie Du, sind viele naive Mädchen dahin gereist und endeten gekleidet wie Fledermäuse im Harem der Salafisten oder als Sexgespielin auf den groben Bettmatten der gräulichen Dschihadisten“, warnte sie mich abschreckend mit ihrem lippenlosen Mund.
„Du wirst mich erst verstehen, wenn der erste Dschihadist dir mit einem eisernen Schwert entgegenstürmt und mit voller Wucht in deinen zarten Körper einfährt und ihn zersäbelt.“
„Selbst meine Freunde halten mich für seltsam. Ja, für eine wirklichkeitsfremde Irre und eine Ausreißerin“, flüsterte sie.
Onkel Hany starrte die ganze Zeit auf Laura während sie redete. Und wer ihn und seine Gestik kannte, wusste ganz genau, dass ihn bald wieder einer seiner Anfälle der übermütigen Heiterkeit überkommen würde.
„Wenn meine Nachbarn nichts mehr zu sagen hatten, zogen sie über mich her. Es wurde viel über mich gelästert und ich war Gegenstand des Spotts in jeder Runde. Sie sagten Dinge wie „Laura von Arabien“. Um mich zu ärgern setzten sie noch einen drauf und nannten mich „Usama Ben Ladens neuer Schwarm.“
Abwägend wackelte Onkel Hany mit den buschigen Augenbrauen, kratzte sich leicht an der Brust und setzte sein spöttisches Grinsen auf.
„Bruder Usama hätte sie ganz bestimmt nicht von der Bettkante gestoßen“, witzelte er mit dieser besonderen Stimme, die er sich immer für Gelegenheiten aufhob, wenn er einen seiner absonderlichen Späße machen wollte. „Er hätte höchstselbst seinen weißen Turban und seinen langen schwarz gefärbten Bart ausgebreitet“, sagte er frotzelnd und löffelte seine Bohnen. Alle lachten belustigt. Erst ein warnender Blick und ein Knuff in die Magengrube von seiner Frau brachten ihn zum Schweigen, zumindest für einen Moment, bevor er wieder seiner Zunge freien Lauf ließ.
„Wer könnte, bitte schön, solchen Augen widerstehen. Nur einer der keine im Kopf hat. Solchen Augen würde selbst der radikalste Dschihadist nicht widerstehen“, sagte er weiter, seine Bohnen kauend, mit amüsierter Stimme und zwinkerte ihr anzüglich zu. Er flehte die Runde an, seinen Satz genau zu übersetzen. In der Runde wurde geflüstert, dann kicherten alle. Auch Sherif konnte ein Grinsen nur schwer verkneifen. Laura meinte, darin eine Spur der Belustigung zu sehen.
„Habe ich etwas verpasst?“, wandte sie sich zu Sherif und warf ihm einen hilfesuchenden Blick zu.
Sie neigte den Kopf und wartete einen Moment auf eine Erklärung.
„Scherzen, darin seid ihr Ägypter unübertroffen“, sagte sie dann mit einem enttäuschten Lächeln, als er nur eine wegwerfende Handbewegung machte und belustigt lachte.
Saadiya aber schlug sich neiderfüllt auf die Brust. Sie fuchtelte eifersüchtig mit einer Schöpfkelle ihrem Mann zu. Schließlich rannte er davon mit kehligem Lachen, während er mit einer Hand sein langes Gewand anhob, um zu verhindern, dass es sich zwischen seinen Beinen verfing, und mit der anderen Hand seinen dicken, bläulichen sich auflösenden Turban festhielt und um Gnade bettelte.
„Ich kenne dich! Du missratenes Wesen. Du schlimmster aller Männer. Er ist unersättlich wie kein anderer. Ich werde dir zeigen, wie es dir ergeht“, sagte sie in gespielt strengem Tonfall, und ihre Augen verrieten, dass sie scherzte. Sie warf eine Sandale nach ihm und stemmte die Fäuste in ihre vollen Hüften. Die anderen krümmten sich vor Lachen und machten sich lustig: „Onkel Hany du bist und bleibst ein Lausebengel, den Kopf voller Flausen!“ „Onkel Hany, du sexy-Biest, du Ladykiller und Frauenheld!“, schrien sie mit gespielter Derbheit.
Die lustigen Hänseleien zwischen Onkel Hany und seiner Frau Saadiya begeisterten den Freundeskreis immer wieder aufs Neue. Das, was nach Zank und Streit aussah, war bloß Spaß. Ein herzlicher Spaß, der immer damit endete, dass Onkel Hany Saadiya tollpatschig umarmte, ihr versöhnlich einen Kuss auf die Stirn drückte und etwas reumütig sagte:
„Möge Gott uns unser Lachen vergeben! Kommt Kinder! Lasst uns wieder seriös werden.“
Onkel Hany zog sich lautlos zurück, sein Ohr dem kleinen schwarzen Taschenradio, das einst bessere Zeiten gesehen hatte, zugeneigt. Seit Sherif denken konnte, sah er ihn sein über alles geliebtes Gerät ans Ohr gedrückt haltend. „Ohne mein Radio bin ich ein halber Mensch“, betonte er immer wieder. Dauernd kochte und rührte er die alten Batterien in der rußgeschwärzten Kasserolle um, als würde er harte Eier fürs Sonntagsfrühstück kochen.
„Wie oft willst du sie noch kochen. Wo kein Saft ist, kann man auch keinen Saft herauspressen!“, raunte Saadiya ihm zu und seufzte wie jemand, der es überdrüssig war, ständig dieselbe Bemerkung zu machen. Onkel Hany antwortete nichts, Saadiyas Worte schlicht ignorierend.
Er löffelte eifrig seine Saubohnen, wie ferngesteuert verfolgte er tief besorgt die Weltnachrichten, die aus dem kleinen Gerät dröhnten und rauschten, als kämen sie aus einem anderen Universum.
Onkel Hany war ein richtiger Newsaholic, ein echter Nachrichtensüchtiger. Er hörte, seit Sherif denken konnte, BBC-Arabic. Er schwor auf den Sender und kannte das ganze Team mit Namen, als wären sie alle seine Kollegen, mit denen er gerade die Morgensitzung geteilt hätte. Die Jungs in der Gasse nannten ihn spaßeshalber Mister Bean-BC. Alle amüsierten sich, wenn er die Eröffnungsmelodie sang und seine Stimme an und wieder abschwoll, um die sonore und volltönende Stimme der Sprecher nachzuahmen, sein oberägyptischer Akzent sich aber stärker durchschlug: „Huna London! Huna London! Hier ist London! Hier ist London!“
„Wenn er ….. (sie meinte, wenn er stirbt, sie sprach das aber nicht aus. Sie zeigte bloß mit dem Zeigefinger himmelwärts) wird er bestimmt seinem Willen gemäß sein heiliges Radio neben ihm begraben haben“, sagte Saadiya. Am liebsten wäre es ihm wohl, wenn bei seinem Begräbnis das ganze BBC-Arabic-team anwesend wäre“, sagte sie belustigt und flocht ihren grauen Zopf etwas nachdenklich.
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