Requiem für West-Berlin. Reginald Rosenfeldt
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Reginald Rosenfeldt
Requiem für West-Berlin
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Inhaltsverzeichnis
1.
In der Mitte des 18. Jahrhunderts bescherte der Preußenkönig Friedrich II. dem Dörfchen Kienitz durch die Trockenlegung des sumpfigen Oderbruchs einen bescheidenen Wohlstand. Vielleicht gehörte die Erinnerung an den erfreulichen Aufschwung mit zu den Gründen, warum der Berliner Magistrat 200 Jahre später im Zuge der allgemeinen Neuordnung die Neuköllner Steinmetzstraße in Kienitzer Straße umbenannte.
Von einer der Hauptverkehrsadern des Bezirks ausgehend, führte die Kienitzer Straße steil aufwärts zum Flughafen Tempelhof. Verwitterte, vom letzten Weltkrieg geschwärzte Fassaden säumten ihre zersprungenen Bürgersteige, und ein eiskalter Ostwind hatte die Anwohner in ihre überheizten Wohnungen vertrieben. Auf den Dächern der teilweise noch aus dem vorigen Jahrhundert stammenden Gebäude blinkten rote Signallichter, die bereits den Rosinenbombern den Weg gewiesen hatten, und über dem Häusermeer hing der graue Berliner Himmel wie eine bleierne Decke. Seine melancholische Ausstrahlung verwandelte die ohnehin schon öde Straße in eine verlassene Schlucht, durch die allen Unbill zum Trotz, ein Mann stapfte.
Frischer Schnee fiel auf seine ungepflegten blonden Haare und rieselte in den Ausschnitt des bis zur Brust geöffneten Hemdes. Einige der Flocken blieben auf Karl Urbans nackter Haut kleben, doch er spürte sie genauso wenig wie die grausame Kälte, die unerbittlich in seinen Körper biss.
Nein, weder der Berliner Winter, noch die Tristesse des Januars peinigten Urban, denn ihn wärmte das trügerische Feuer eines billigen Schnapses. Neun Gläser Korn hielten seinen verschlissenen Motor am Laufen, und befeuerten zudem jenen unbeherrschten Zorn, der ihm ständig suggerierte, dass die gesamte Stadt ihn gnadenlos hasste. Für seine beschissenen Mitbürger war er der größte Versager von allen, der ewige Pechvogel, die Niete der Nation.
Fast lustvoll suhlte sich Urban in einem Minderwertigkeitsgefühl, für das auf Grund seiner beeindruckenden physischen Erscheinung überhaupt kein Anlass bestand. Auf den unbefangenen Beobachter wirkte er nämlich wie ein gutmütiger Bär, den selbst der immer heftiger werdende Sturm nicht umwehen konnte. Aber der fast zwei Meter große Koloss, war schon lange ein Schatten seiner selbst, eine lächerliche Schießbudenfigur, die nun ihren torkelnden Schritt verlangsamte, um sich fahrig mit der blaugefrorenen Hand über das Kinn zu streichen.
Die Geste erfolgte rein mechanisch, denn anstatt die Eiskristalle zwischen den Bartstoppeln zu fühlen, drehten sich Urbans Gedanken einzig und allein um Bruno Hartmann. Der elende Kerl trug die Hauptschuld an dem ganzen Schlamassel, und deshalb verdiente er auch eine tüchtige Abreibung.
Bei dem Gedanken an die knochenbrechende Wucht seiner Hiebe begann Urbans malträtiertes Herz schneller zu schlagen, und er lächelte böse. Ach ja, wenn er es dem Herrn Verkehrsmeister erst einmal so richtig besorgt hatte, würde ihn nicht einmal die eigene Mutter mehr wiedererkennen.
„Die Sau bettelt doch regelrecht um eine Tracht Prügel“, rechtfertigte Urban trotzig seine gewalttätigen Fantasien, und kämpfte sich weiter dem Ende der Straße entgegen, während sein umnebelter Kopf gnadenlos die leidige, alte Schallplatte abspielte. Ohne Pause dudelte er die verlogene Moritat von dem großen Missverständnis, dem ungerechten Pech, dem er letztendlich seine Kündigung verdankte.
Urban schloss sekundenlang die Augen und quälte sich zum hundertsten Mal mit der Frage, warum die miesen Klugscheißer der Berliner Verkehrsgesellschaft ausgerechnet ihn herausgepickt hatten. Er war weiß Gott nicht der einzige, der trotz Abmahnung angetrunken zum Dienst erschienen war, oder das Wechselgeld nicht ganz korrekt abgerechnet hatte. Das waren lächerliche Lappalien, Kindereien, wegen denen man ihn doch nicht einfach an die frische