Requiem für West-Berlin. Reginald Rosenfeldt
Augenblick lang akzeptierte. Jene Realität, in der er als Autobusschaffner fast ein Viertel des eingenommenen Fahrgeldes in die eigene Tasche gestopft hatte. Am Anfang stahl er nur einzelne Fünf- und Zehnpfennigmünzen, aber dann summierte sich der Betrag, und als er ein strenges Verhör durchleiden musste, rechtfertigte er sich damit, dass er leider mehrere Fahrscheinblöcke verloren hatte.
„Was wollt Ihr denn von mir? Verbummelt Ihr Schlipsträger denn nie etwas? Na also, ist doch klar wie Kloßbrühe, ohne Billets kann ich nun mal kein Geld einnehmen!“ So schlicht und ergreifend hatte Hartmann das aber nicht gesehen, und so trottete Urban nun arbeitslos die Kienitzer Straße entlang.
„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ Unbeherrscht fluchend knöpfte der gedemütigte Mann die dünne Wolljacke noch weiter auf, und atmete tief durch. Luft, er brauchte dringend frischen Sauerstoff, eine kräftige Brise, die solange sein Gehirn durchpustete, bis er endlich wieder den Zauber seiner längst verloren geglaubten Träume spüren konnte. In ihnen war er, genau wie die Helden seiner Kindheit, stets der Herr seines eigenen Schicksals gewesen; ein kosmischer Abenteurer, den die BVG-Knechte den Arsch kreuzweise lecken durften! Verächtlich spuckte Urban auf den verkrusteten Schnee und brüllte: „Hey, ihr lahmen Stubenhocker! Wagt euch doch heraus zu mir, hier draußen tobt das echte, harte Leben!“
Die vom eisigen Wind verschluckten Worte beinhaltete durchaus eine gewisse Wahrheit, denn der zornige Riese marschierte geradewegs seinem persönlichen Shangri-La entgegen. Der magische Ort befand sich am Ende der Kienitzer, und Urban musste nur noch über eine spiegelglatte Fahrbahn schlittern, bevor er endlich am Zaun des Flughafens Tempelhof stand. Das jenseits des rautenförmigen Maschendrahts beginnende Areal versteckte sich, wie in den letzten Tagen, hinter einer Mauer wirbelnden Schnees, und der geisterhafte Anblick entführte Urbans kindliches Gemüt übergangslos aus der profanen Wirklichkeit.
Gebannt starrte er in die weiße Unendlichkeit, die ihn so sehr an die Abenteuer in seinen geliebten Comics erinnerte. Die schmalen Streifenhefte halfen ihm den elenden Alltag zu überleben, und letztendlich verdankte er ihnen sogar seinen Spitznamen. Sputnik, nannten ihn seine wenigen Freunde, Kalle Sputnik, oder auch Kalle der Weltraumfahrer, da sich die Anrede auf ein Cover seiner Lieblingsserie bezog.
„Nick der Weltraumfahrer“! Ha, die fantasielosen Kerle wollten einfach nicht verstehen, warum ein erwachsener Mann überhaupt Bilderheftchen schmökerte. Für sie war er einfach ein impulsiver, wenn auch gutmütiger Spinner, der schon viel zu lange in einer entrückten Traumwelt lebte. „Wenn das wirklich ihre Meinung war, bitte sehr!“
Trotzig umklammerte Urban den Zaun und kehrte für einen Moment wieder in jene fantastische Region zurück, die den muffigen Berliner Alltag überhaupt erst erträglich machte. Nur in den imaginären, Lichtjahre weit entfernten Weiten des Alls fühlte sich seine Seele wirklich frei, und er hätte sonst etwas dafür gegeben, sie genau wie „Captain Zukunft“ mutig durchstreifen zu dürfen.
„Eine Reise durch das unendliche Universum!“ Was für eine großartige Illusion, aber im wahren Leben kamen kosmische Abenteuer leider nur in den utopischen Groschenheften vor, und abgesehen davon, war es Kalle bisher nicht ein einziges Mal gelungen, wenigstens die geteilte Stadt zu verlassen. Versucht hatte er es natürlich schon oft, aber der Alkohol, und schlimmer noch, der aus ihm geborene Jähzorn, verbrannten die halbherzigen Versuche jedes Mal zu kalter Asche.
Hauptsächlich lag das natürlich an seiner ewig klammen Börse, und genau dieses Loch würde er heute Abend endlich stopfen! Ja, in ungefähr drei Stunden begann die große Abzocke, die ihn mindestens für die nächsten zwei Monate sauber sanieren musste.
„Das wird ein richtiges Schlachtfest!“ Kalle grinste heimtückisch, und nahm sich vor die ahnungslosen Gimpel diesmal richtig auszunehmen. Die braven Opferlämmer hockten bestimmt schon im „Schwarzen Kater“ und deshalb war es vielleicht nicht ganz falsch, wenn er sich ein bisschen auf sie vorbereitete.
Der Vernunft widerwillig gehorchend, trat der einsame Mann den Heimweg an, während hinter seinem Rücken Flugzeugdüsen aufheulten. Das vom Schneesturm gedämpfte Geräusch wirkte so unwirklich, dass sich Kalle für einen Moment einbildete, den Atommotor eines startenden Raumschiffs zu hören. Das Brüllen der Triebwerke verstärkte sich, und als dann auch noch ein Schemen über die Häuserdächer jagte, konnte das nur Captain Futures Comet sein, und nicht die tägliche Maschine aus Frankfurt. Der Lärm ihrer Turbojets erfüllte die steinerne Schlucht minutenlang mit dem üblichen, alles übertönenden Dröhnen, dann erstarb es allmählich in der Ferne, und Kalle Sputnik umhüllte wieder die Tristesse eines eisigen Wintertags.
2.
Ein scharfer Ostwind, der direkt aus den „Weiten Russlands“ zu kommen schien, fegte gnadenlos die dünne Schneedecke von der Rollbahn des Flughafens Tempelhof. Wie bleiche Staubfahnen wirbelte er die Flocken empor und peitschte sie gegen den Rumpf des soeben gelandeten Pan Am-Clipper „Charlottenburg“.
Die vierstrahlige Boeing 707 parkte im Haupthangar des Airports, der normalerweise genügend Schutz vor dem Berliner Schmuddel-Wetter bot. Doch an diesem Nachmittag jagten die im Neonlicht glitzernden Eiskristalle sogar in die bereits geöffnete Vordertür des Clippers, so dass die dort wartende Stewardess unwillig das Gesicht verzog. Ihr hellblaues Kostüm mit dem knielangen Rock bot bei der unfreundlichen Witterung einfach nicht genügend Schutz, und der Wind riss ihr fast die Kappe mit dem kleinen Emblem von der perfekt gestylten Frisur.
Die rechte Hand auf die runde Kopfbedeckung gepresst, überspielte die zierliche Brünette ihr Missvergnügen mit einem antrainierten Lächeln, und wandte sich wieder den zum Auschecken bereiten Passagieren zu. Den wenigen Touristen stand noch der Schock der unruhigen Reise ins Gesicht geschrieben, während die graue Armee der Geschäftsleute völlig unbeeindruckt die Gurte öffnete. Ihre gelangweilten Mienen überraschte die Stewardess nicht sonderlich, denn einige der Herren hatten mit ihr schon weitaus heftigere Berlin-Flüge durchgestanden.
Nur einer der Männer, ein korpulenter Mittvierziger mit dem Habitus des typischen Vertreters, bewegte sich unruhig in dem für ihn viel zu engen Sitz. Mit einem gequälten Grinsen blickte er seinen geduldig abwartenden Nachbarn an. „Na, das war ja wieder mal eine elende Schaukelei! Ich verstehe einfach nicht, warum die Amis keinen stärkeren Druck auf die Russkis ausüben, damit wir die SBZ endlich in einer größeren Höhe überfliegen können.“
„Ja, heute war es wirklich etwas unruhig über der DDR.“ Der von dem Staubsauger-Vertreter aus Köln-Nippes angesprochene Mann besaß peinlicherweise einen amerikanischen Akzent. In aller Ruhe erhob er sich, und rückte mit dem Zeigefinger seine schwarze Hornbrille zurecht. Dann öffnete er das über dem Kopf befindliche Gepäckfach, zog einen Aktenkoffer heraus, und deutete auf den Gang. „Gehen Sie ruhig vor, ich werde abgeholt, da kommt es nicht auf die Minute an.“
„Ei, wirklich! Aber ansonsten, es ist schon eine Schande, dass die Luft-Hansa von der Berlin Route ausgeschlossen ist!“ Ungeniert nahm der Dicke die höfliche Geste zum Anlass, um weiter zu lamentieren, und als die Tirade einfach nicht enden wollte, unterbrach ihn der Amerikaner genervt: „Seien Sie froh, dass es wenigstens drei Fluggesellschaften erlaubt ist, West-Berlin durch die zugegebenermaßen ungünstigen Luftkorridore anzufliegen.“
Der Kölner wollte zu einer Entgegnung ansetzen, doch sein unfreiwilliger Gesprächspartner beendete in einem scharfen, keinen Widerspruch duldenden Tonfall das Gezeter: „Am besten, Sie reisen das nächste Mal mit der Bahn oder dem Bus nach Berlin; das wird ihnen gefallen, glauben Sie mir! Die Gepäckkontrollen der Vopos sind immer wieder ein Erlebnis!“
Das stichhaltige Argument ließ den Herrn der Staubsauger endgültig verstummen. Mit einem verächtlichen Schulterzucken quetschte er sich an zwei Frauen vorbei und verließ missmutig die Maschine. Weit hinter ihm rückte der Amerikaner erneut seine Brille zurecht, und schob sich gelassen dem Ausstieg entgegen. Als er ihn erreicht hatte, bedachte er die dort postierte Stewardess mit einem kleinen Lächeln. „Vielen Dank für den trotz allem sicheren Flug!“
„Das ist unser Anliegen, Pan Am wünscht Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“ Mit einem unmerklichen Seufzer blickte die junge Frau dem Fremden hinterher, der genau jenem