Balkanmärchen auf 251 Seiten. Johann Heinrich August Leskien
betreffenden Stückes zu einem bestimmten Überlieferungskreise
festzustellen. Diese vergleichenden Anmerkungen
rühren von Dr. A u g u s t v. L ö w i s o f
M e n a r her, die erklärenden vom Übersetzer.
Leipzig, im Mai 1915
A u g u s t L e s k i e n
1. Das kluge Mädchen wird Zarin
Einmal gab ein Zar den Befehl: wer den und den Stein
schlachtet, daß das Blut davon fließt, den will ich
zum Ersten meines Reiches machen.
Von allen Seiten kamen wackre Burschen herbei,
aber keiner konnte den Stein schlachten; sie fanden es
nur wunderlich, wie man überhaupt einen Stein
schlachten könne. In einem Dorfe gab es ein sehr
wackres Mädchen, sie hütete die Schafe. Als sie
davon hörte, verkleidete sie sich als Mann, ging zum
Zaren und sagte zu ihm: »O Zar, ich kann den Stein
schlachten.« Überallhin ging das Gerücht, es habe
sich ein Mensch gefunden, den Stein zu schlachten,
und zahllose Leute sammelten sich, um zu sehen, wie
der das machen wird.
Als der Tag kam, an dem das Mädchen den Stein
schlachten sollte, zogen der Zar und alle Vornehmen
aus der Stadt auf einen freien Platz, und dort vor aller
Augen sollte das Mädchen ihn schlachten. Das Mädchen
zog das Messer, um den Stein zu schlachten,
wandte sich zum Zaren und sagte: »Zar, du willst
doch, daß ich den Stein schlachten soll. So gib ihm
vorher eine Seele (Leben), und wenn ich ihn dann
nicht schlachte, nimm meinen Kopf.«
Der Zar wunderte sich über diese Antwort und
sagte: »Du bist der Klügste in meinem Reiche, und
ich will dich zum vornehmsten Manne machen; wenn
du mir aber noch das vollbringst, was ich dir sagen
werde, so sollst du mir wie ein Sohn sein.« Das Mädchen
sprach: »Sage, Zar, was du sagen willst, und
wenn es möglich ist, will ich mich bemühen, es zu
vollbringen.« Der Zar sagte ihr: »Von jetzt an in drei
Tagen sollst du wieder vom Dorfe hierher kommen.
Wenn du kommst, sollst du reiten und nicht reiten,
sollst mir ein Geschenk bringen und nicht bringen;
alle, groß und klein, wollen wir herauskommen und
dich empfangen, und du sollst die Leute dahin bringen,
daß sie dich empfangen und nicht empfangen.«
Die Hirtin ging nun in ihr Dorf und gab den Bauern
den Auftrag, drei vier Hasen und zwei Tauben lebendig
zu fangen. Die Bauern taten das.
Am dritten Tag, als sie zu dem Zaren gehen sollte,
steckte sie die Hasen je einen in einen Sack, gab sie
den Bauern zu tragen und sagte: »Wenn ich euch
sage, ihr sollt sie loslassen, dann laßt sie los.« Sie
selbst nahm die beiden Tauben, setzte sich rittlings
auf eine Ziege und machte sich auf zu dem Zaren; einige
Leute hatte sie vorausgeschickt, ihm anzuzeigen,
daß sie komme.
Als der Zar das hörte, zog er aus der Stadt, sie zu
empfangen mit allen Vornehmen und zahllosen Stadtleuten.
Als nun das Mädchen nicht mehr weit von
dem Zaren war, sah sie die Menge Menschen, die herausgekommen
waren, sie zu empfangen, und als sie
ihnen nahekam, befahl sie den Bauern, vor den Augen
der Leute die Hasen loszulassen. Sobald die das
sahen, rannten sie fort, die Hasen zu fangen.
Die Hirtin, die rittlings auf der Ziege saß, ging bald
zu Fuß, die Ziege zwischen den Beinen, bald hob sie
die Füße auf und ritt auf der Ziege.
Als sie zu dem Zaren hintrat, zog sie die beiden
Tauben aus dem Busen und reichte sie ihm hin. In
dem Augenblick, wo er die Hand ausstreckte, die
Tauben zu nehmen, ließ sie sie aus der Hand, und die
Tauben flogen weg.
Da sagte die Hirtin zu dem Zaren: »Du siehst, Zar,
die Leute haben mich empfangen und nicht empfangen;
ich bin geritten und nicht geritten; ich habe dir
ein Geschenk gebracht und nicht gebracht.« Da sagte
ihr der Zar: »Von heute an sollst du mir wie ein Sohn
sein.« Sie aber flüsterte ihm ins Ohr: »Ich bin kein
Bursche, ich bin ein Mädchen.« Der Zar, der nicht
verheiratet war, nahm sie zur Frau. Und so wurde die
Hirtin durch ihre Klugheit Zarin.
2. Der geizige Zar und sein mitleidiger Sohn
oder: Die gute Tat geht nie verloren
Es war einmal ein Zar, ein großer Geizhals, der hatte
einen Sohn, und als dieser erwachsen war, gab er ihm
eine Saumlast Gold und schickte ihn fort samt dem
Wesir, um noch mehr zu erwerben; nach drei Jahren
sollte er drei Lasten zurückbringen; wenn nicht,
würde er ihm den Kopf abschlagen.
Sie gingen nun in ein anderes Reich, und als sie in
eine Stadt kamen, sahen sie, wie man einen Menschen
mit zusammengebundenen Füßen die Straßen entlangschleifte,
und fragten: »Was hat dieser Mensch böses
getan, daß man ihn so mißhandelt?« Die antworteten
ihm, das sei bei ihnen Sitte; wenn einer gestorben sei,
binde man ihm die Füße zusammen und schleife ihn
vor die Stadt hinaus, jeder helfe ein wenig, als Seelenopfer
für den Toten. Der Zarensohn, der sehr mitleidig
war, kaufte ihn los, richtete eine Bahre her, führte ihn
hinaus vor die Stadt, bereitete ein Grab, begrub ihn
und veranstaltete einen Totenschmaus, ohne auf den
Wesir zu hören. Der aber, da er sah, daß der Zarensohn
das Geld verschwendete, verließ ihn und kehrte
zurück; und wirklich gab der Junge mit seinen Wohltaten
alles Geld aus.
Er kehrte nun in die Stadt zurück, und da er sich
fürchtete, wieder nach Hause zu gehen, verdang er
sich am Rande der Stadt bei einem alten Gastwirt, bei
dem niemand mehr einkehrte. Der Junge brachte es