Balkanmärchen auf 251 Seiten. Johann Heinrich August Leskien
Pferd, soviel er konnte. Das Pferd rannte, was es
konnte, und fiel aus übermäßiger Anstrengung tot hin.
Da ließ er das Pferd liegen und lief zu Fuß weiter. Als
er sich dem Hause näherte, sahen ihn die Diener und
meldeten es. Der jüngere Bruder legte sich nun und
stellte sich tot, die Schwägerin deckte ihn mit einem
Leichentuch zu, zündete ein Licht an und begann die
Totenklage. Als der ältere Bruder das Jammergeschrei
hörte, beeilte er sich noch mehr, und sobald er ins
Haus trat, zog er seinen Säbel, stürzte sich auf die
Frau und wollte sie erstechen: »Ach, du elendes
Weib, du hast meinen Bruder vergiftet!« Als das der
Bruder hörte, sprang er auf und sprach: »Rühre meine
Schwägerin nicht an! Nicht sie hat mich vergiftet,
sondern du wolltest mich vergiften.« Da sagte der ältere
Bruder kein Wort, fiel dem andern um den Hals
und sprach: »Ach, Bruder, bist du noch am Leben,
bist du wirklich noch am Leben?« bedeckte ihn mit
Tränen, küßte ihn, bekannte seine Schuld und erzählte
ihm alles, was sich mit dem Adler zugetragen hatte.
Da brachen sie beide in Tränen aus, weinten miteinander
und herzten sich. Von da an lebten sie wieder
brüderlich und lagen niemals mehr in Streit.
5. Der Faulpelz, oder: Gutes wird mit Gutem
vergolten
Es war einmal eine Mutter, die hatte auch einen Sohn;
der Junge hatte aber keine Lust zu arbeiten, er war zu
faul. Die Mutter sagte ihm: »Aber Sohn, wenn du
schon nichts anderes arbeitest, geh wenigstens mit
dem Esel Holz holen.« Der aber antwortete: »Hol mir
ihn doch, wenn du willst, daß ich nach Holz gehen
soll.« Die Mutter holte ihm den Esel und sprach: »Da,
ich habe dir den Esel geholt, nun geh also!« – »Setz
mich auf den Esel, wenn du willst, daß ich nach Holz
gehen soll«, sagte der Junge weiter. Da setzte sie ihn
auf den Esel und sagte wieder: »Da, ich habe dich
daraufgesetzt, mach vorwärts und geh!« Sie legte ihm
auch noch das Beil auf den Esel und brachte ihn so
mit aller Mühe dahin, daß er ging.
Der Junge zog nun seines Weges, Holz zu holen;
nach einiger Zeit kam er ans Meer, da fiel ihm das
Beil herunter. Er war zu faul, abzusteigen und es aufzunehmen,
sondern blieb auf dem Esel sitzen und
wartete. Da war aber ein Fisch aufs Trockene geraten
und konnte nicht wieder ins Wasser kommen. Als der
den Jungen sah, bat er ihn: »Du Junge! trag mich ins
Meer, und was du willst, gebe ich dir.« – »Gib mir
das Beil da,« antwortete der Junge, »wenn du willst,
daß ich dich ins Wasser trage.« Der Fisch bewegte
den Schwanz, hob den Stiel des Beils in die Höhe, so
konnte der Junge es fassen, und dann sagte er zu dem
Fisch: »Was willst du mir nun geben, daß ich dich ins
Meer trage?« – »Was ich dir gebe?« antwortete der
Fisch, »ich habe nichts, was ich dir geben kann, nur
das kann ich machen: wenn du sagst: ›Lengo und
Sawe und das Meer‹, dann wird dir alles zuteil, was
du willst.« Da warf der Junge den Fisch ins Meer, der
schwamm gleich fort, und der Junge blieb am Ufer
stehen. Nun fing er an nachzudenken, was er machen
und was sich wünschen soll. Zuletzt fiel ihm ein, er
wolle sagen, daß ihm ein Tisch mit Essen hingestellt
werden soll, und so sagte er: »Lengo und Sawe und
das Meer! Es soll mir ein Tisch mit allerlei Speisen
dastehen.« Und sogleich stand der Tisch mit schönen
Speisen da. Der Junge aß sich satt und ging dann ins
Gebirge nach Holz. Wer sollte ihm aber nun das Holz
sammeln? Er war zu faul dazu. Da sagte er wieder:
»Lengo und Sawe und das Meer! Es soll mir Holz
aufgelesen und auf den Esel geladen werden.« Sofort
war das Holz aufgelesen und dem Esel aufgeladen.
Der Junge ging mit dem Holz nach Hause.
Unterwegs kam er am Zarenschloß vorbei. Die Zarentochter
stand am Fenster, der Bursche sah sie und
sagte: »Lengo und Sawe und das Meer; dies Mädchen
soll schwanger werden.« Da wurde sie gleich schwan-
ger ohne Mann. Das Kind in ihrem Leibe wuchs und
wuchs, und sie wunderte sich: »Wie ist denn das gekommen?
Und was soll ich meinem Vater sagen,
wenn er es merkt?« Die Zarentochter war nämlich
sehr schön, und ihr Vater hatte sie im Palast eingeschlossen,
daß sie mit keinem Mann verkehre. Endlich
merkte der Vater, daß seine Tochter schwanger
war, rief sie ganz allein zu sich und sprach: »Aber,
Tochter! was machst du mir da für Scham und Schande?
Von wem hast du's? Wohin bist du gegangen,
oder wer ist zu dir gekommen?« Das Mädchen war
sehr erschrocken und antwortete mit Zittern: »Ich bin
nirgends hingegangen, Vater, auch ist keiner zu mir
gekommen, ich habe gar keinen Mann gesehen.« Ihr
Vater glaubte ihr aber nicht, ließ sie in den Block
spannen und ihr die Bastonade geben, sie aber blieb
dabei: »Ich weiß nicht und weiß nicht!« Zuletzt sagte
sie ihm: »Ein Bursche mit einer Last Holz kam am
Schloß vorüber, sah mich am Fenster und murmelte
etwas vor sich hin, und von der Zeit an fühlte ich, daß
ich schwanger sei!« – »Wie kann es sein, daß eine
vom bloßen Ansehen schwanger wird?« erwiderte der
Vater; er wollte ihr das durchaus nicht glauben, sie
aber schwur, schlug sich an die Brust und sagte:
»Wenn du willst, Vater, glaube mir; wenn nicht,
nimm mein Leben – wirf mich ins Meer.« Da ließ der
Zar den Burschen holen und fragte ihn, ob er das
Mädchen zur Frau nehmen wolle. Der sagte ja, und
der Zar gab sie ihm, setzte die beiden in ein Schiff,
gab seiner Tochter einige Kränze Feigen und