Balkanmärchen auf 251 Seiten. Johann Heinrich August Leskien
willst zu Hause bleiben, da wirst du sehen, ob er dein
wahrer Bruder ist oder nicht.«
Der jüngere antwortet ihnen nicht darauf, aber es
fraß ihm am Herzen. Er ging zur Nacht nach Hause,
übernachtete dort, und als er am andern Morgen aufgestanden
war, sagte sein Bruder ihm: »Wie hast du
die Nacht zugebracht, Bruder, hast du gut geschlafen?
« – Der aber antwortete ihm: »Ach, Bruder, kein
Auge habe ich zugetan.« – »Warum?« fragte der ältere.
– »Ja sieh! soviel Jahre, seit der Vater tot ist, lebe
ich Tag und Nacht außer Hause unter freiem Himmel;
nach Hause komme ich einmal im Jahre; mit keinem
Menschen bin ich bekannt, habe weder Freund noch
Feind. Wenn die Zeit kommt, daß ich mir einen Hausstand
gründen und mich verheiraten will wie du, wie
soll ich da das Haus besorgen, da ich niemand kenne
und von Hausarbeit nichts verstehe. Daran habe ich
gedacht und die ganze Nacht nicht geschlafen und
habe mich entschlossen, dich zu bitten, daß wir mit
den Arbeiten tauschen, daß ich einige Jahre zu Hause
bleibe und du auf meine Arbeit gehst.«
»Sehr wohl, Bruder,« erwiderte der ältere und stellte
sich, als wäre er nicht ärgerlich, »du sollst jetzt hier
bleiben, und ich will auf deine Arbeit gehen, nur
heute will ich noch auf die Jagd gehen, und wir wollen
noch zusammen essen, morgen wollen wir dann
tauschen.« Dabei wollte er platzen vor Ärger, ging
sein Pferd zu satteln, rief seine Frau in den Stall und
sagte zu ihr: »Hör zu! Ich will heute auf die Jagd
gehen und habe meinem Bruder gesagt, ich würde
zum Essen kommen; aber du mußt wissen, daß ich
nicht kommen werde; du aber brate ein Lamm und
stecke Gift hinein, und zur Mittagszeit deckst du den
Tisch und forderst den Bruder auf zu essen. Und paß
auf! wenn ich zum Abendessen zurückkomme und
höre dich nicht die Totenklage singen, dann ist es um
dein Leben geschehen.« Das befahl er der Frau, bestieg
sein Pferd, gab ihm die Sporen und fort war er
mit den Jagdhunden und Jagdfalken.
Die Frau war ganz entsetzt und blieb lange Zeit
wie versteinert an derselben Stelle stehen. Als sie wieder
zu sich kam, dachte sie hin und her, was sie anfangen
soll: soll sie sterben oder den Schwager vergiften?
Endlich beschloß sie, es Gott anheimzustellen:
kann sie sich retten, gut! wenn nicht, lieber sterben
als ihren Schwager vergiften. Sie briet nun das Lamm,
bereitete das Mittagessen, und als die Essenszeit kam,
deckte sie den Tisch und nötigte ihren Schwager zum
Essen; der aber antwortete: »Wie könnte das sein? Ich
sollte ohne meinen Bruder essen? Er hat mir doch versprochen,
daß wir zusammen essen wollen.« Die Frau
wurde nun sehr betrübt, da sie sah, wie der Schwager
ihren Mann, seinen Bruder, liebte, und wie dagegen
ihr Mann seinen Bruder haßte – so sehr, daß sie dem
Schwager um den Hals fiel, Ströme von Tränen vergoß,
schluchzte und nicht sprechen konnte. Ihr
Schwager war verwundert, hielt sie fest, daß sie nicht
fiele, und bat sie, ihm zu sagen, warum sie weine.
»Ach, Bruder,« antwortete sie, »heute ist es mit mir
aus!« – »Warum, meine Liebe,« fragte er weiter,
»sprichst du so?« – »Du sehnst dich nach meinem
Manne und willst nicht ohne ihn essen. Und er? Er
hat mir befohlen, dich zu vergiften, und geschworen,
mich zu töten, wenn er von der Jagd zurückkommt
und im Hause nicht Totenklage und Jammergeschrei
hört.«
Als das der Schwager hörte, sagte er zu ihr: »Sei
unbesorgt, liebe Schwägerin, ängstige dich nicht, du
wirst nicht sterben. Aber wir wollen einmal sehen,
was mein Bruder tun wird, wenn er mich tot sähe; so
wollen wir Leute an den Kreuzweg schicken, um aufzupassen
und uns Bescheid zu sagen, wenn er sich
zeigt. Wir wollen jetzt ordentlich essen, und wenn er
kommt, deckst du mich mit einem Leichentuch zu,
zündest am Kopfende ein Licht an und fängst an, mir
die Totenklage zu halten.« Was sie so besprochen
hatten, führten sie dann alles aus.
Der ältere Bruder war nun aus dem Hause fort und
auf die Jagd gegangen, dahin, wo er immer zu jagen
pflegte. Er mühte sich den ganzen Tag ab, aber was
niemals vorgekommen war und ihn sehr verwunderte,
er konnte nichts erlegen. Auf dem Rückwege sah er
einen Adler hoch in den Wolken und ließ die beiden
Falken los, die er bei sich hatte. Die flogen wie der
Blitz in die Höhe, nahmen den Adler in die Mitte und
kämpften mit ihm. Nach kurzer Zeit brachten sie ihn
nach und nach zu Fall, und als er nahe genug war, daß
man ihn erreichen konnte, ergriff ihn der Jäger und
sagte zu ihm: »Siehst du, auch du, der du so hoch
fliegst bis in die Wolken, kannst meinen Händen
nicht entgehen.« – Der Adler vergoß Tränen und antwortete:
»Ah! wäre mein Bruder am Leben, deine beiden
Falken, ja auch zwanzig, hätten mir nichts tun
können; daß doch die Hand dem verdorre, der ihn getroffen
und erschlagen hat.« – »Wer hat ihn erschlagen?
« fragte der Jäger. – »Ach,« antwortete der Adler,
»bei Frost, Schneewetter und heftigem Sturm gerieten
wir aufs Schwarze Meer, und der Sturm verschlug uns
auf ein Schiff. Mein Bruder trat gerade auf ein Tau,
als ein Schiffer – möge seine Hand verdorren! – ihn
traf und er ins Meer fiel. Und ich, da ich ihn nicht
mehr habe, bin in böser Zeit ohne Hilfe, wie jetzt, wo
ich mich deiner beiden Falken nicht erwehren konnte.
«
Als das der Jäger hörte, fiel ihm sein Bruder ein,