Balkanmärchen auf 251 Seiten. Johann Heinrich August Leskien
dem Zaren: »Erhabener Zar! ihre Krankheit ist
sehr schlimm; es bleibt nur die Hoffnung auf ein Mittel,
das man noch versuchen kann; aber das ist
schrecklich; sie kann auch daran sterben. Deswegen
gib mir eine Schrift, daß du mir nichts Böses tun
wirst, wenn – was Gott verhüte – deine Tochter stirbt;
dann soll es versucht werden.« Der Zar fragte nun
seine Tochter, die aber sagte: »Mag ich sterben oder
gesund werden, ich kann die Schmerzen nicht länger
aushalten.«
Der Zar gab dem Arzt die Erlaubnis; der schloß
sich mit dem Zaren und der Tochter in ein Zimmer ein
und nahm alles mit, was er brauchte, aber den Burschen
ließ er nicht zusehen, daß der nicht auch das
lerne; denn es war eine sehr seltene Krankheit. Der
Bursche aber, der das größte Verlangen hatte, auch
das zu lernen, konnte nicht davon abgehen zuzusehen.
Er stieg ganz leise auf den Boden und machte dort ein
Loch in die Decke, gerade so groß, daß er sehen
konnte, was der Arzt machen wird. Der legte die Zarentochter
auf einen Tisch, band sie ordentlich fest,
daß sie sich nicht rühren konnte, betäubte sie dann,
spaltete den Kopf mit einem Schnitt und öffnete ihn
an der Stirn. Und was sieht er? Einen Käfer, der sich
mit den Füßen im Gehirn festgeklammert hatte. Da
nahm er die Zange, um ihn wegzureißen, aber sowie
er ihn fassen wollte, ließ sich eine Stimme von der
Decke hören: »Um Gottes willen, höre! Zieh den
Käfer nicht mit der Zange heraus, sonst wird er das
Gehirn zerreißen, und das Mädchen wird sterben.
Sondern mach eine Nadel heiß und stich den Käfer
von hinten mit der Nadel, dann wird er von selbst die
Füße loslassen und abfallen, ohne das Gehirn zu verletzen.
« Der Arzt sah ein, daß es wirklich so besser
sei, und tat, wie ihm die Stimme von der Decke anbefahl.
Dann schloß er ganz sanft den Kopfspalt wieder
zu und verband den Kopf mit den passenden Mitteln.
Das Mädchen erwachte und fühlte, daß ihm besser
war als vorher. Als sie nun wieder hübsch gesund
war, rief der Zar den Arzt und sagte zu ihm: »Was
willst du von mir dafür haben, daß du meine Tochter
geheilt hast?« Der Arzt antwortete: »Ich verlange, daß
du meinen Lehrling tötest.«
Als der Zar das hörte, wunderte er sich und sagte
zu dem Arzt: »Verlange etwas anderes, nur das
nicht.« Aber der Arzt blieb dabei. Der Bursche aber
sprach zu dem Zaren: »Erhabener Zar, ich sehe, daß
du mir nichts Übles antun willst und Mitleid mit mir
hast; aber der Arzt läßt nicht nach, er will, daß ich
umkomme. Darum befiehl, daß er selbst mich vergifte,
und wenn ich nicht an dem bestimmten Tage sterbe,
den er angibt, daß ich dann für ihn ein Gift bereite,
und wir sehen, ob er sich davon retten kann wie
ich.« Der Zar willigte ein, einmal, weil er nicht wollte,
daß der Bursche umkomme, zum andern, weil er so
den besten von ihnen zum Arzt wählen konnte. Also
gab er den Befehl, und am nächsten Tage brachte der
Arzt das allerschärfste Gift für den Burschen und gab
es ihm vor den Augen des Zaren. Der Bursche aber
fragte den Arzt: »Wieviel Stunden werde ich noch
leben, nachdem ich das Gift getrunken habe?« Der
antwortete: »Sieben Stunden!« Der Bursche aber, der
vorher ein Mittel gegen Vergiftung eingenommen
hatte, trank das Gift und ging hinaus. Darauf nach
sieben Stunden trat er wieder vor den Zaren frisch und
gesund und sprach: »Jetzt ist die Reihe an mir, Gift
für meinen Meister zu bereiten, aber ich bitte dich, erhabener
Zar, befiehl, daß ein Ausrufer auf dem Markt
verkünde, es solle drei Tage und drei Nächte keiner
aus dem Hause gehen, solange ich das Gift koche,
denn schon von seinem Dampf fallen die Vögel zur
Erde.« Damit gingen er und der Arzt hinaus.
Am vierten Tag erschien er wieder vor dem Zaren,
nahm vor dessen Augen ein wenig Wasser, tat es in
eine Flasche und versiegelte sie. Dann sagte er zum
Zaren, er möge den Arzt rufen lassen. Als der da war,
gab er ihm die Flasche zu trinken, und als der Arzt
ihn fragte: »Wieviel Stunden werde ich noch leben,
wenn ich das ausgetrunken habe?«, antwortete er:
»Sowie du die Flasche in die Hand nimmst, wirst du
sterben.« Und wirklich, sobald der Arzt sie ergriff,
fiel er tot hin.
4. Die beiden Brüder
Es waren einmal zwei Brüder; solange ihr Vater lebte,
arbeiteten sie nach dessen Befehl, der eine ging aufs
Landgut, der andere hütete die Schafe. Aber als der
Vater gestorben war, wurde der älteste Hausherr, und
der jüngste arbeitete immer außer Hause, war dem
Bruder ganz gehorsam und kam selten heim. Der ältere
aber arbeitete gar nicht, sondern saß zu Hause und
bewirtete seine Freunde, hielt schöne Pferde, Jagdhunde
und Jagdfalken und lebte wie ein großer Herr.
Mit der Zeit wurden sie noch reicher; der ältere war
verheiratet, der jüngere nicht, und er kam nur alle großen
Festtage nach Hause.
Als er einmal an einem solchen Festtag ins Dorf
kam, begegneten ihm einige Bauern, die ihnen neidisch
waren und sie auseinanderbringen wollten; die
sagten zu ihm: »Bist du deines Vaters Sohn oder
nicht?« – »Wie denn nicht?« antwortete er. – »Nun,
wenn es so ist, warum bist denn du den ganzen Tag
an der Arbeit, bei den Schafen, auf dem Felde, in Gewitter,
Sturm und Sonnenbrand? Eine Plage machst
du dir, wie sonst keiner; und dein Bruder, der ältere,
lebt wie ein großer Herr, Kleider, Essen, Trinken in
Fülle, geehrt und gepriesen, und du wie