Von den Göttern verlassen II. Sabina S. Schneider
Selbst sein, wenn sie nicht verstand, was sie empfand und warum? Zu allem Überfluss sandten ihr Körper und ihr Geist mehrere Gefühle gleichzeitig aus. Auch widersprüchliche. Serena hatte zunächst Gefühle in primäre und sekundäre eingeteilt und war den primären Gefühlen gefolgt.
Was nicht sonderlich gut funktioniert hatte. Die „sekundären“ Gefühle wandelten sich in „primäre“, wenn man sie unachtsam beiseiteschob. Verwirrt und verzweifelt hatte Serena bei Mikhael Rat gesucht.
„Vergleichen, abwägen und Kompromisse finden“, hatte er ihr geraten. „Wie in einer Liebesbeziehung wirst du sowieso immer den Kürzeren ziehen.“ Als Serena nachgefragt hatte, was denn genau eine Liebesbeziehung sei, hatte er erst vor sich hin gestammelt, war rot geworden und hatte dann das Thema gewechselt.
Seit sie in der Airenhauptstadt Magrem angekommen waren, hatten alle ihre Aufgaben und Pflichten. Nur Serena und Mikhael schienen keinen Platz in dem Ganzen zu finden.
Aira hatte von morgens bis abends Unterricht in der Airensprache, Airengeschichte, Airenliteratur, Airenpolitik, Airenwaffenkunde, Airen-hast-du-nicht-gehört.
Malhim rannte wie ein Besessener von einer Versammlung zur nächsten, immer gefolgt von seiner Leibgarde Haril, Aragar und Mof. Sie balancierten auf einem Seil, das bereits schon vor Jahren gerissen war, nicht einmal mehr eine Idee, sondern nur noch der Traum eines alten Senjyou. Und obwohl eine diplomatische Beziehung zwischen den verfeindeten Völker noch nicht greifbar war, erschien sie jedoch wieder möglich.
Wären Salmon und Garif, wenn sie noch leben würden, auch zu Malhims stummen Schatten geworden?
Das Erreichen ihres Zieles hatte die Gefährten viel gekostet.
Zu viel.
Ein schaler Geschmack erfüllte Serenas Mund. Um ihn hinunterzuspülen, nahm sie einen großen Schluck von dem übelschmeckenden Airengebräu. Und es half. Mochten die Airen es deswegen so? Es fühlte sich an wie Kopfschmerzen nach einem ganzen Tag Übelkeit. Die Abwechslung tat gut.
Und doch kehrte die Übelkeit in Form eines vertrauten Gesichtes wieder. Langes blondes Haar, Haut so weiß wie Schnee und leere, ausdruckslose Augen.
Alara …
Malhim hatte Serena gebeten, mit niemandem über ihrer Mutter zu sprechen. Eine Bitte, der Serena von ganzem Herzen gerne folgte. Doch ihre Gedanken und Gefühle sahen sich nicht an das Versprechen gebunden und lauerten auf die unpassendsten Momente, um über Serena herzufallen.
Sie hatte von ihrer eignen Mutter, die ihr außer das Leben nichts geschenkt und so viel genommen hatte, lernen müssen, wie sich Hass anfühlte und was er bedeutete.
Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen und Serena versuchte sich zu beruhigen. Sie wollte das Leben in sich nicht beim Schlafen stören. Mit der Hand fuhr sie vorsichtig über ihren Bauch. Dank der weiten Kleidung war noch nicht viel zu sehen. Doch ihr Leib rundete sich mit einer überraschenden Schnelligkeit.
Auch wenn das Wesen, das in Serena heranwuchs, seit jenem Tag nicht mehr aktiv gewesen war, wuchs es stetig im Schlaf. Wie groß ihr Bauch wohl werden würde?
Die durchschnittlichen Maße waren Serena nicht unbekannt. Doch ihre Schwangerschaft war alles andere als normal. Nur wenige wussten von ihr. Und in ihren Augen hatte Serena sie gesehen: die Angst vor dem, was in ihr schlummerte.
Auch nach jener Nacht hatten Haril und Malhim zu ihr kein Wort über ihr ungeborenes Kind verloren.
Malhim schwieg aus Scham.
Und nach einem Versuch, das neuentstehende Leben in ihr zu töten, nahm Haril die Schwangerschaft mit stoischer Wachsamkeit hin und beobachtete Serena aus sicherer Entfernung.
Mikhael schien etwas zu vermuten, sprach es jedoch nicht an.
Und Alara wusste es nun auch …
Was es auch war, das in ihr heranwuchs, es war ihr Kind und Serena würde es beschützen. Behutsam strich sie sich über den Bauch, blickte auf den Kristallkrug mit dem fürchterlichen Gebräu und entschied sich, es nicht mehr anzurühren. Was so furchtbar schmeckte, konnte nicht gut für ihr Baby sein.
Serena sah sich vorsichtig um.
Laut ihrem Informanten verbrachte er fast jeden Abend in dieser Kneipe. Doch Zorghk schien noch nicht da zu sein.
Serenas Herz flatterte. Sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, dass ihr Körper, Geist und vor allem ihr Herz selbst bei dem Hauch eines Gedankens auf verschiedenste Weisen reagierten. Zum Glück hatten die Gefühle mit der Zeit an Intensität verloren.
Mikhael hatte es mit einem Muskel verglichen, der ein Training durchlief. Der Anfang war hart, aber mit der Zeit wurde der Muskel stärker und man gewann an Kraft und Kondition. Er hatte Recht behalten. Mit dem Training kam auch langsam das Verständnis. Es half zu wissen, was man warum fühlte.
Jetzt brachte der Gedanke, ihren alten Lehrmeister zu sehen und mit ihm zu sprechen, Serenas Herz in Aufruhr. Sie horchte in sich hinein und erkannte das Gefühl: ANGST.
Ja, sie hatte Angst.
Angst vor dem, was sie heute Abend von Zorghk erfahren würde.
Zorghk hatte Serena ausgebildet und unterrichtet, nachdem man ihren Vater abgeführt hatte und sie alleine mit ihrer kalten und gefühllosen Mutter zurückgeblieben war. Sie verstand nun, dass Zorghk eine große Lücke in ihr gefüllt hatte. Er hatte ihr einen Alltag gegeben und Aufgaben, an denen Serena hatte wachsen können. Zorghk war zu einem zweiten Vater für sie geworden.
Griesgrämig, streng und fordernden, war er vermutlich der Einzige, der ihr etwas über ihre und Airas Eltern sagen konnte.
⧖
Es war wieder eines dieser steifen Banketts, die regelmäßig gehalten wurden, um den Clans die Gelegenheit zu bieten, einander ihre Edelsteine vorzuführen. Es strahlte, blitzte und funkelte, wohin das Auge blickte. Je höher der Rang und reicher der Clan, desto mehr Edelsteine strahlten von Umhängen, Gürteln, Ohren, sogar Schuhen. Ketten, Armreifen und Ringen bedeckten fast jedes Zentimeter Haut. Selbst vor Haarschmuck schreckte die erbarmungslosen Airen nicht zurück.
Serena ertappte sich dabei, wie sie zu Boden starrte und sich doch dem Strahlen nicht entziehen konnte. Er war aus dunklem, poliertem Marmor und spiegelte all das wieder, dem Serena entfliehen wollte. Selbst in ihren geputzten Stiefeln fing sich der Glanz und tanzte spöttisch hin und her, rief sie dazu auf, sich zu ergeben und im Licht der Edelsteine zu baden. Bis sie nichts mehr sah. Serena versuchte, sich in den Brokatstoff der langen, schweren Gardinen zu retten, die zweckentfremdet von der fünf Meter hohen Decke hingen, ohne vor Blicken zu schützen.
Die Fenster in Magrem waren nie behangen, denn sie ließen das lebensnotwendige Licht hinein. Nie völlig dunkel, schwamm die Stadt in einem Zwielicht, in einem stets andauernden Dämmerungszustand, der nur bei solch einer Edelsteinansammlung heller erleuchtet schien als der Tag selbst.
Serena sehnte sich nach der Dämmerung. Nicht dunkel, nicht licht. Die meisten Streitigkeiten der Klans entstanden, wenn die lichtempfindlichen Augen der Airen in dem Regenbogenkonzert des Lichts sich blind anrempelten, da war sich Serena sicher. Zu stolz, sich zu entschuldigen, blieb nur die Konfrontation.
Serenas Blick verfing sich dankbar in dem dumpfen Brokatstoff, fand Frieden in dem Kampf der Edelsteine. Die Anspannung fiel von ihr ab, ihre Glieder relaxten ein wenig unter der schweren Airenkleidung. Fell und Edelsteine. Serena hatte jeden Spiegel gemieden, um nicht zu erblinden und sehnte sich nach einer einfachen, erdfarbenen Tunika. Eins werden mit dem Wald, sich dort verlieren.
Doch im Moment fühlte sie sich aufdringlich, aggressiv. Ihre Kleidung schrie nach Herausforderungen. Wenn sie die Hallen in diesem Aufzug verließe, würde sie von einem Duell zum nächsten stolpern. Dass sie die meisten Airen um drei Köpfe überragte, spitzte die Situation nur unnötig zu. Die Airen waren ein neidische Volk und ein grummeliges.
Während Serena an den Frieden des Waldes dachte und ihren Augen eine Ruhepause gönnte, schloss sie den Lärm, der sich wie Gezanke von Waschweibern anhörte,