Von den Göttern verlassen II. Sabina S. Schneider
nach ihrer Schulter. Serena ging in die Knie, drehte sich und zielte auf seine Knöchel. Wie eine Katze sprang Mikhael in die Luft, packte nach ihrem Arm, wirbelte sie herum und presste ihren Rücken gegen seinen Oberkörper. Serena bohrte ihren Absatz schmerzhaft in Mikhaels Zeh und traf mit ihrem Kopf sein Kinn.
Überrascht ließ Mikhael ihren Arm los, wich jedoch zurück, als sie zu einem Tritt ausholte. Als Serenas rechter Fuß nur Luft durchschnitt, ließ sie den linken folgen, trieb Mikhael mit Tritten und Schlägen zurück. Ein paar trafen seinen Oberkörper, wenige seine Arme, mit denen er seinen Kopf schützte.
Dann erwischte er Serenas Bein, nutzte ihren Schwung, drehte sie weiter, so dass sie das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel. Sie landete auf dem Bauch. Der Sauerstoff wurde beim Aufprall aus ihren Lungen gepresst. Nach Luft ringend, lag Serena auf dem steinernen Boden.
Der Frust war weg, Serena hatte keinen internationalen Konflikt ausgelöst, war jedoch keinen Deut schlauer als vor zehn Tagen.
Mikhael hielt ihr die Hand hin und fragte ebenfalls außer Atem: „Besser?“
Serena nickte und ergriff seine Hand.
Mit Schwung zog er sie hoch und sie landete an seiner Brust. Seine Arme umfingen sie, pressten sie fest an sich. Er atmete den Duft ihres Haares ein und vergessen waren die kalten Steine, die feindseligen Blicke und das Gefühl der Hilflosigkeit und Wut. Es gab nur sie beide auf der Welt und nichts war wichtiger als das Hier und Jetzt.
Mikhael umfasste Serenas Kinn und blickte ihr tief in die Augen.
Dann spürte Serena es.
Ihr Baby trat und förderte eine Erinnerung an die Oberfläche.
„… Du bringst sie über das Flachland, durch den Dunkelwald und das Senjyougebiet nach Torn, in die Berge zu den Airen …“
Serenas Augen blitzten. Sie umarmte Mikhael stürmisch und bedeckte seine Lippen mit ihren. Nur für einen herrlichen Augenblick. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und lachte.
Torn! Zorghk hatte sie nicht nach Magrem geschickt, sondern Torn.
Mikhael hob sie hoch und drehte sich im Kreis, presste Serena fester an sich. Er wollte die Zeit anhalten und auf ewig in diesem Moment leben. Serena lachend in seinen Armen. Das war alles, was er in der Welt wollte, je gewollt hatte.
Doch der Moment verging. Sie machte sich von ihm los, rutschte an ihm herunter, bis ihre Füße den Boden berührten. Als sie sich aus seiner Umarmung löste, spürte er ein Stechen im Herzen.
Fragen, die er sich weigerte zu stellen, schwammen gefährlich nahe an die Oberfläche:
Was war am Waldrand bei dem ausgestorbenen Dorf passiert?
Was geschah mit Serena?
Wie konnte ein Mensch unverwundbar sein?
Mikhael verdrängte sie, wollte die Antworten nicht wissen. Er wollte einfach da sein, wenn Serena ihn brauchte. An ihrer Seite sein und für sie tun, was er konnte. In seinen letzten Atemzügen würde er noch mit aller Kraft für sie kämpfen. Doch vor ihrem eigenen Körper konnte er sie nicht beschützen.
Schweigend gingen sie zurück zum Palast und zu ihren Quartieren. Nacht war über Magrem eingebroch. Hier und da erhellte ein grünes Licht ihren Weg, das aus den Fenstern der kleinen Steinhäusern leuchtete. Je näher sie dem Palast kamen, desto größer wurden die Steinbauten und verworrener die Wege und Gässchen.
Doch in den Monaten des Nichtstuns hatten Mikhael und Serena die Gegend erforscht, sich an den Wundern der Airenkultur und der Schönheit der Steinbauten berauscht, die meisterlich aneinandergereiht waren. Es gab Häuser aus schwarzem sowie weißem Marmor. Fenster, Türen und Wände waren mir Edelsteinen verziert. Vor den Eingängen hingen oft schwere Felle. Die Airen verwendeten nur wenig Holz, da das Material in den Bergen nicht nur selten, sondern vor allem in den Augen des langlebigen Volkes zu unbeständig war. Was nicht für die Ewigkeit gebaut wurde, war eine Vergeudung von Zeit und Rohstoffen.
Es dauerte eine Weile, bis sie am Palast ankamen. Wie eine natürliche Erhebung stach er aus den Reihen der flachen Häuser heraus. Auch wenn die Gebäude der Airen selten mehr als einen Stock nach oben gebaut waren, reichten sie, wie die Wurzeln eines Baumes, mit ihren unterirdischen Ebenen weit in den Berg hinein.
Nichts in diesem Teil der Landen war, wie es von außen erschien. Während es in den obersten Geschossen nur wenig Bewegungen gab, vibrierten die unteren Gänge, die fast jedes Haus miteinander verbanden, vor Leben, wenn die kleinen Airen geschäftig hin und her wuselten. In all dieser flachen, reliefartig aus dem Berg herausgearbeiteten Architektur strebte nur der Palast mit seinen 15 Meter hohen Mauern zum Himmel empor.
Spitze Türme ragen in die Luft. Gerade und feingliedrig, von den Meistern der Steinmetze behauen mit feinen strukturierten Mustern. Im Zentrum befand sich ein Meisterwerk der Glaskunst. Feingeriebene Steine, farbig sortiert und zu einer dünnen, durchsichtigen Masse verschmolzen, erschufen sie lebendige Bilder, die von der Geschichte der Airen erzählten. Riesige, polierte Flächen fingen jeden Lichtstrahl auf, leiteten ihn durch das Zentrum und dann weiter in die unteren Ebenen. Gigantische Fensterfronten wurden flankiert von Steinsäulen.
Die Wachen am Haupttor würdigten Serena und Mikhael wie immer keines Blickes. Die beiden gingen unbehelligt an ihnen vorbei, passierten den Hof und betraten das Nebengebäude. Ihre Zimmer lagen in der zweiten Ebene unter der Erde. Verzweigte Gänge und enge Treppen führten zu einem Trakt, in dem die Gäste untergebracht waren. Mikhael ging voraus, schob den Pelzvorhang beiseite und trat in das grün beleuchtete Zimmer. Es war ein helles Grün, frisch wie der Morgentau. Die Feuersteine waren kaum gebraucht, fast neu.
Serena folgte ihm. Im Zimmer stand ein breites Bett. Das Gerüst war aus Metall, die Matratze weich, gefüllt mit Federn. Felle lagen auf dem Bett und vor dem Bett, ein Baldachin schwebte über ihm. Eine Truhe aus Metall stand am Bettende, auf der Mikhael seine Kleidung zu legen pflegte.
Darüber hinaus war der Raum leer. Das Gemeinschaftsbadezimmer der Männer war am Ende des Flures. Gespeist von heißen Quellen, war das Wasser stets warm, fast heiß und sollte heilende Wirkung haben.
Als sich Serena wie gewöhnlich auf sein Bett setzte, wünschte sich Mikhael, sie würde es nicht tun. Er war nahe daran zu vergessen, dass er es mit jemanden zu tun hatte, der nicht einmal die emotionelle Stufe eines siebenjährigen Kindes erklommen hatte. Und so sehr er Serena in Ehren hielt, war er doch nur ein Mann. Er setzte sich so weit wie möglich von ihr weg, versuchte, sie nicht anzusehen. Ihre zarte Haut, die sogar im grünen Schimmer weich und anziehend auf ihn wirkte.
Die weite Airenkleidung, die nichts von ihren weiblichen Rundungen erahnen ließ, machte sie in diesem Moment nur geheimnisvoller und noch reizender. Seine Hände zuckten und er schlang seine Finger ineinander, um ihrer Herr zu werden.
Wie lange war es her, dass er bei einer Frau gelegen war? Zu lange.
Serena schwieg, blickte auf das Brokat des Baldachins. Mikhael traute seiner Stimme nicht und starrte wortlos in die grünen Flammen.
„Ich werde nach Torn gehen. Alleine.“ Serenas Stimme durchbrach die Stille.
Mikhael begehrte auf.
„Alleine?“ Sie machte ihm deutlich, dass sie IHN nicht dabei haben wollte. „Warum?“, schrie sein Innerstes.
„Ich suche jemanden. Er wird nicht auftauchen, wenn ich jemanden bei mir habe.“
Als Mikhael nichts erwiderte, fügte Serena schnell hinzu: „Ich komme wieder, sobald ich ihn gefunden habe.“
Ihn? Sie suchte einen Mann? Eifersucht packte ihn und schnürte seine Kehle zu. Serena gehörte ihm nicht. Sie gehörte nicht einmal zu ihm und doch wollte er toben, ihr verbieten zu gehen. Allein der Gedanke, dass sie nicht an seiner Seite wäre und er nicht wüsste, ob es ihr gut ginge, trieb ihn in den Wahnsinn, noch während sie neben ihm saß.
Doch er blieb stumm.
Mikhael hatte keine Wahl.