Von den Göttern verlassen II. Sabina S. Schneider

Von den Göttern verlassen II - Sabina S. Schneider


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saßen sie so da. Die Tränen liefen weiter. Trauer um ihr verlorenes Ich, ihr gegenwärtiges und ihr zukünftiges. Trauer um Molly, um alles, was geschehen war. Darum, was gerade passierte und noch geschehen würde.

      Als ihre Tränen versiegten, streichelte Mikhael ihr über die Wange und fragte: „Besser?“

      Weiterhin nach Atem ringend, nickte Serena.

      „Es muss schwer sein, mit all diesen neuen Gefühlen umgehen zu müssen. Es tut mir leid.“

      Serena blicke Mikhael tief in die Augen und sah dort MITGEFÜHL. Er litt, weil sie litt. Aber warum bat er um Verzeihung?

      „Ich hätte sie aufhalten müssen. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass er das Netz um deine Gefühle zerreißt. Ich wünschte, ich hätte dir diesen Schmerz ersparen können.“

      „Warum wusstest du, dass es wehtun würde?“, fragte Serena. War es immer so? Brachten Gefühle nur Schmerz und Chaos?

      „Das Leben ist nicht einfach. Für die meisten bedeutet Leben Leiden und ist ein ständiger Kampf, diese Leiden zu minimieren“, sagte Mikhael leise und strich ihr zart eine schwarze Locke aus dem Gesicht. Seine Stimme kam von Weitem, aus einer Vergangenheit, über die er stets geschwiegen hatte.

      „Warum klammern sich so viele an ihr Leben, wenn es nur Schmerz und Leid bringt?“ fragte Serena verständnislos und presste ihr Ohr an Mikhaels Brust, um seinen Herzschlag deutlicher zu hören. Es schlug kräftiger und schneller als zuvor, sein Körper wurde wärmer. Seine Brust hob und senkte sich rhythmisch.

      „Es gibt Dinge, für die es sich zu leben lohnt. Ohne Dunkelheit gäbe es kein Licht und ohne Licht keine Dunkelheit.“

      Serena blieb still, versuchte Mikhaels Worte einzufangen und zu verstehen, doch ihr Sinn entglitt ihr wieder und wieder.

      „Was ist das Licht in deinem Leben?“, fragte Serena, hob den Kopf von seiner Brust und suchte in seinen leuchtenden Augen nach Antworten. Mikhael wich ihrem Blick nicht aus und antwortete, ohne zu zögern: „Du bist das Licht meines Lebens.“ Ernst blickte er zu ihr herunter, nahm ihre Hand und legte sie auf sein Herz. „Es schlägt nur für dich.“

      Serena starrte auf ihre Hand, spürte seine Haut unter ihren Fingerkuppen, grub sie tiefer in seine Muskeln, um seinem Herzen näher zu kommen. Mit dem ersten Herzschlag begann das Leben und mit dem letzten endete es. Es war so einfach und doch unendlich kompliziert.

      „Ich fühle so viel Dunkelheit in mir, dass ich nicht leuchten kann“, erwiderte Serena, die sich auf den Ursprung des Lebens konzentrierte, das rhythmische Schlagen des Herzens.

      Mikhael lachte leise. Tief und melodisch schlug das Geräusch Wellen in Serenas Körper, erzeugte Gänsehaut.

      „Du leuchtest wie der hellste Stern in einer Neumondnacht. Du hast mich gerettet. Ohne dich wäre ich nicht mehr.“

      Der Wunsch, Mikhael nahe zu sein, erstarb, als Serena verstand. Es war Pflichtgefühl, das ihn an sie band. Überrascht stellte sie fest, dass sie ENTTÄUSCHT war. Sie hatte etwas anderes hören wollen, wusste jedoch nicht was. Sie löste sich aus seiner Umarmung und sagte kalt: „Du bist mir nichts schuldig. Ich entlasse dich aus deiner Pflicht.“

      Plötzlich packte Mikhael sie an beiden Schultern, drehte sie zu sich um und schüttelte sie. In seinen Augen leuchtete ein Feuer der WUT. Warum war er wütend? Verständnislos starrte Serena ihn an, als sich seine Finger schmerzhaft in ihre Oberarme gruben.

      Er ließ Serena los und starrte in die Leuchtkugel. Dann sprach Mikhael, ohne sie anzusehen: „Ich möchte dir ein Geschenk überreichen, das ich noch mit niemandem geteilt habe. Sie ist jungfräulich, meine Wahrheit.“ Seine Stimme klang tief, beinahe zärtlich, als er ihr seine Vergangenheit zu Füßen legte.

      Mikhael erzählte von seiner Mutter, die ihn verkauft hatte. Von seinem Leben unter Räubern und Mördern. Seinen Spielchen mit Frauen, auch seinem Schauspiel und Betrug an Laura. Von seiner Flucht vor Armirus, seiner Begegnung mit ihr, Aira und Molly. Er sprach von seinen Gefühlen für Molly. Ohne Schmerz in der Stimme erzählte er aus einer dunklen Vergangenheit.

      Ohne etwas zu sagen, hörte Serena zu.

       Wie hatte sie all das vergessen können? Diesen intimen Augenblick der Wahrheit, der Wirklichkeit. Wenn sich alles unecht anfühlte, musste dieser Moment die Realität sein und doch hatte Serena ihn aus Angst begraben. Serena schloss vor ihrer eigenen Feigheit die Augen. In dem Moment, als Mikhael ihr von Molly erzählt hatte, war ihr Herz übergequollen mit EIFERSUCHT. Sie war eifersüchtig auf Molly. Molly, die von Serenas eigener Mutter ermordet worden war. Scham erfüllte Serenas Sein. Sie war selbstsüchtig und egoistisch. Sie hatte nur ihr Leid gesehen, sich zurückgezogen und ihre Wunden geleckt. Keinen Gedanken hatte sie daran verschwendet, dass sie nicht die Einzige war, die litt. Keinen Gedanken hatte sie an Mikhaels Gefühle verschwendet, oder Airas.

      „Es tut mir leid“, entschlüpfte ihren Lippen eine nutzlose, bittere Entschuldigung.

      „Dir muss nichts leidtun. In jener Nacht hatte ich mich damit abgefunden, in der Gosse zu sterben. Dann kamst du. Wie ein rettender Engel aus Feuer, hast du deine brennenden Flügel um mich gelegt und mich wie einen Phönix aus der Asche auferstehen lassen. Ein Teil von mir ist in der Gosse gestorben und aus der Asche kam ich mit einem neuen Leben hervor, mit einem neuen Ich. Ich lebe, um bei dir zu sein. Nicht, weil es meine Pflicht ist, nicht weil ich es muss. Ich habe nichts anderes und will es nicht anders.“ Mikhaels Finger verschränkten sich ineinander, die Ellbogen auf den Knien gestützt. Ein Lächeln spielte um seinen Mund, das Licht der Kugel tanzte in seinen Augen.

      Serena erstarrte aus Ehrfurcht vor seinen Worten. Ehrlich und Wahrhaftig mussten sie die Realität sein, nach der sich ihr Herz sehnte.

      Die Antwort.

      „Ein neues Ich”, flüsterte Serena leise, als hätte sie Angst, dass die Erkenntnis ihren Geist verließ wie der Laut ihren Körper. „Veränderung. Ist es okay, sich zu verändern? Sich zu verlieren, wenn man sich noch nicht einmal gefunden hat?“ Fragen, die ihre Antworten bereits in sich trugen.

      „Veränderungen gehören zum Leben. Ohne Veränderungen gäbe es keinen Fortschritt, nur Stagnation. Wovor hast du Angst?“ Mikhaels Augen rissen sich vom Licht los, suchten Serenas Gesicht, tasteten es ab.

      „Wie konnte ich je Ich sein ohne Gefühle? Werde ich zu einer anderen Person? Wie kann ich all das empfinden und nicht in den Empfindungen untergehen, ein Mich verlieren, wo nicht einmal ein Ich ist?“ Waren die Worte auch verworren, leuchtete die Fragen klar heraus.

      „Du hattest stets Gefühle. Denk an deine Freunde, deine Familie. Menschen, die dich mochten und die dich mögen. Du bist stark, ehrlich, intelligent und selbstständig, lässt dich nicht von Vorurteil lenken. Hast einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und bist wunderschön. Molly hat dich vergöttert. Aira weicht selten von deiner Seite und mich hast du verzaubert.

      Gefühle sind nicht immer so intensiv. Viele kann man ignorieren, viele versteht man nicht. Sie können lenken und führen. Sie können in der tiefsten Dunkelheit Licht schenken und einen in die höchsten Sphären emporheben, aber auch in die tiefsten und dunkelsten Höllen stoßen.

      Aber sie tun eines nicht.

      Sie lügen nicht. Man kann andere belügen, man kann versuchen, sich selbst zu belügen, aber Gefühle sind einfach da. Man kann selten etwas gegen sie tun. Dass du jetzt traurig bist über Mollys Tod, zeigt, dass sie dir etwas bedeutet hat und dass du vorher nicht gefühllos gewesen sein kannst. Dass du jetzt leidest, ist eine Erinnerung an die schönen Zeiten, die ihr zusammen verbracht habt. Etwas, das man nie hatte, kann man nicht vermissen.“

      Serena glaubte, zu verstehen, und der Nebel in ihrem Kopf lichtete sich ein wenig. Veränderung war nicht schlecht. Serena konnte selbst entscheiden, wer sie war und wer sie sein wollte.

      Sie war Serena, Tochter von Sieran, Freundin von Laura, Schülerin von Zorghk, Freundin von Molly, Gefährtin von Aira und Mikhael. Sie würde bald Mutter werden. Serena berührte sanft ihren leicht gerundeten Bauch. Egal, wessen


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