Geliebter Prinz. Billy Remie
zu welchem Volk man stand. Es war die freie Entscheidung eines Einzelnen.
In diesen Tagen musste der König besonders vorsichtig sein. Desiderius hoffte, dass die Königsfamilie sicher bei seinem Vater ankam und nicht Opfer eines Überfalls wurde. Zum Glück mussten sie die Tiefen Wälder durchqueren, um zur Burg der Familie M’Shier zu gelangen. In den Wäldern lebten ausschließlich die Waldmenschen, die mit ihren nahen Verwandten – den Menschen – wenig charakterliche Ähnlichkeiten hatten. Sie würden den König friedlich gewähren lassen und jeden Versuch, ihn zu töten, unterbinden.
Der Gedanke an die Tiefen Wälder erinnerte ihn daran, dass er sich ebenfalls auf den Weg machen musste.
Von der Küste aus war es nicht mehr weit bis zu dem lichten Waldgebiet, das seine Familie bewohnte. Die dunkle Burg lag in der Nähe hoher Klippen und war durch die Tiefen Wälder vom Rest Nohvas abgeschirmt. Desiderius musste nur dem Weg nach Westen folgen, am Rande der Tiefen Wälder entlang, und wäre dann im Gebiet seines Vaters.
Die Küste lag nah an der Familienburg, aber niemals würde ein anderes Mitglied seiner Familie die messerscharfen Klippen der Küste sehen – die im Sonnenlicht violett schimmerten – weil sie niemals freiwillig herkommen würden. Es war auch besser so. Einfältige Schnösel, wie sie es waren, überlebten nicht lange an der Küste.
Doch trotz der Gefahr, die hier drohte, drehte sich Desiderius noch einmal um und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die halb eingestürzten Dächer der Schwarzen Stadt, wie sie genannt wurde, und schwor sich, so schnell er konnte, wieder her zu kommen.
Aber zuerst musste er seiner verhassten Familie den Arsch retten, indem er so tat, als wäre er ein geschätztes Familienmitglied und kein vertriebener Bastard. Und wenn das getan war, musste er sich eine neue Gruppe Diebe oder Söldner suchen, bei denen er einige Taler verdienen konnte, die er letzten Endes wieder hier an der Küste für Wein und männliche Dirnen ausgeben würde.
Es war ein ewiger Kreislauf. Der Kreislauf des einfachen Lebens, den er nicht aufgeben würde, selbst wenn man ihn mit vorgehaltener Klinge dazu zwingen wollte.
Lieber stürzte er sich über die Klippen.
Er wandte der abtrünnigen Stadt den Rücken zu und ging geradewegs in die Ställe hinein. Es gab niemanden, der hier ein Auge auf alles hatte. Man stellte sein Pferd hier ab und hoffte einfach, dass es am nächsten Morgen noch da und lebendig war. Es wäre nicht das erste Pferd, das Desiderius auf diesem Wege genommen worden wäre.
Dieses Mal war er sich aber sicher, dass sein Hab und Gut noch an Ort und Stelle war, denn seine Kameraden hatten den Stall als Schlafplatz genutzt und einen Jüngeren aus der Gruppe beauftragt, die ganze Nacht lang Wache zu halten.
Desiderius hörte die Schar Räuber schnarchen, während er seine Waffen, seine Lederrüstung und seinen Umhang aus ihrem Versteck holte und alles anlegte.
Es handelte sich dabei um eine leichte Rüstung, die ihm Bewegungsfreiheit gab, und einen bodenlangen Wollmantel, der bei Bedarf seine Gestalt und sein Gesicht verdeckte. Er befestigte seine zwei Dolche, die er immer überkreuz auf seine Brust geschnallt trug, schob den dritten Dolch in einen Stiefel und steckte zuletzt sein Langschwert in die Schwertscheide auf seinem Rücken.
Er führte seinen Rappen aus der nassen Box, in der kein Stroh lag, und legte ihm Halfter und Sattel an.
Ein letzter Blick auf die schwarze Stadt, dann schwang er sich vor den Stallungen in den Sattel und lenkte den Rappen in Richtung Westen.
Unter den Hufen des großen Pferdes knirschten die winzigen, kleinen Steinchen, die den Boden an den Küsten übersäten. Sowohl den Strand als auch den Boden oben auf den Klippen. Der schwarze Stein wirkte wie Schiefer, der zu kleinen Bruchstücken zertrümmert war, doch in der Sonne schimmerte er violett. Wegen dieses Gesteins hatte dieser Küstenabschnitt seinen Namen: Die Violetten Küsten.
Das hier war mehr seine Heimat als die, zu der er jetzt ritt.
Desiderius trieb seinen Rappen mit einem Schnalzen seiner Zunge an und beschloss, die Küste hinter sich zu lassen. Darüber zu jammern, nach Hause zurückkehren zu müssen, half ihm auch nicht.
***
Viele Reisen hatte er im Sattel verbracht. Er war ein geübter Reiter. So war es nicht verwunderlich, dass er und sein Rappe nur die Hälfte der eingeplanten Zeit benötigten.
Gut, Desiderius gab zu, dass der Hengst seinen Teil dazu beitrug. Es war ein edles Tier. Kräftig aber trotzdem ausdauernd. Sein Hals war muskulös, seine Beine lang und schlank. Sie trugen nicht viel Gewicht, dafür kamen sie schnell voran. Desiderius hatte den Rappen vor einigen Jahren aus einem Stall einer Adelsfamilie entwendet. Das Pferd war eine Mischung aus Gebirgspferd, die für ihren robusten Körperbau bekannt waren, und den wendigen Wüstenpferden aus den Sandhügeln, die sehr groß und schnell waren. Der Rappe war treu wie ein Hund, schnell wie kein anderes Ross und robust wie Desiderius selbst. Sie waren ein eingespieltes Team.
Als sich zwischen weit auseinander stehenden großen Trauerweiden eine düstere Burg emporhob, zügelte Desiderius seinen Rappen und ließ ihn langsam den Kiesweg entlang traben, der sie direkt zum Tor leiten würde. Desiderius bestaunte wie immer den hohen Turm, der zum Himmel emporragte und einen langen Schatten warf. Die Burg war einst aus dem Gestein der Küste erbaut worden. Hart und nicht schmelzbar. Einer Legende nach, soll diese Burg sogar einst dem Feuer eines Drachen standgehalten haben.
Allerdings konnte diese Geschichte haltlos erfunden sein, denn Desiderius hatte nie einen Drachen gesehen oder je jemanden getroffen, der einem begegnet wäre. Drachen waren für ihn auch nichts weiter als Legenden. Fabelwesen, die nicht existierten. So wie die Riesenkraken, die angeblich ganze Segelschiffe auf See verschluckten. Er glaubte an nichts, was er nicht selbst gesehen hatte. Und da er fast jeden Winkel Nohvas kannte – einschließlich vieler Höhlen und Ruinen von Völkern, die lange vor seiner Zeit ausgestorben waren – und noch keinem Ungeheuer wie einem Drachen oder einem Riesentier begegnet war, vermutete er, dass auch keines dieser Wesen existierte.
Was er allerdings gesehen hatte, waren Nachtschattenkatzen. Das Wappentier seines Volkes. Eine Mischung aus Wolf und Raubkatze. Spitze Zähne und Krallen wie eine Katze, lange Schnauze und Ohren wie ein Wolf. Fiese, kleine Biester. Ihre Bisse waren giftig, ihre Krallenhiebe gingen tief und ihr Fauchen tat in den Ohren weh. Es war nicht klug, gegen sie zu kämpfen, sie waren zu schlau und zu schnell. Hörte man das Knurren einer Nachtschattenkatze, wendete man lieber sein Pferd.
Genau wie in diesem Moment, dachte Desiderius, als er die Wappen mit den eleganten Tieren darauf an der Burgmauer entdeckte. Er wäre gerne umgekehrt und hätte diese auf Stoff gestickten Nachtschattenkatzen hinter sich gelassen.
Doch stattdessen blickte er das große Tor hinauf zu den Wachen.
Sie riefen fragend zu ihm hinunter, wer er sei und zu welchem Zweck er dort war.
Die ruppige Begrüßung war er gewohnt und er war sich ganz sicher, dass sie wussten, wer er war. Doch die Wachen machten sich einen Spaß daraus, ihn sagen zu hören, was er war.
Also seufzte er entnervt und rief dann brav zu ihnen hinauf: »Ich bin Desiderius M’Shier, der Bastard. Euer Burgherr erwartet mich.«
Er hätte schwören können, ihr Gelächter zu hören, ließ es aber gelangweilt über sich ergehen. Schon lange hatte er kein Problem mehr damit, ein Bastard zu sein.
Liebevoll kraulte er die dichte Mähne seines Rappen, während er darauf wartete, dass man ihm das Tor weit genug öffnete.
Er ritt durch den Spalt hindurch. Dahinter befanden sich bereits der weitläufige Burghof und die Pferdeställe. Ein Stallbursche kam ihm entgegengerannt, um sein verschwitztes Pferd in Empfang zu nehmen.
Desiderius glitt aus dem Sattel und gab dem jungen Burschen die Zügel. »Gib ihm frisches Heu und eine Handvoll Hafer, er hatte kein Frühstück.«
Der Stalljunge nickte bestätigend.
»Und reib ihn mit Stroh ab«, rief Desiderius ihm nach.
Eine tadelnd schnalzende Zunge ertönte