Alvine Hoheloh. Amalia Frey
perfekten Blattschuss, der den Vater mehr als verblüfft zurückließ.
Ihm blieb folgerichtig nichts anderes übrig, als seinem jungen Wildfang Unterricht zu gewähren und sich schließlich auf den zahlreichen Turnieren des Landkreises behaupten lassen. Überrascht von der Aufmerksamkeit so vieler Menschen (im Wald ihres Vaters freilich gab es davon wenig), reagierte sie intuitiv. Auch das war goldrichtig, denn Backfisch Dorothea Friedgold wurde plötzlich zu allerlei Teekränzchen und später zu unzähligen Abendgesellschaften eingeladen. Dem schlossen sich eine ganze Reihe schneidiger Verehrer an, die sich jedoch sogleich aufgescheucht anstellten, als sie ein Wettschießen auf einer gemeinsamen Treibjagd vorschlug.
Nicht so Alfred Hoheloh, ein zahmer Großstädter, der für einige Tage bei Dorotheas Pateneltern wohnte, deren Schuhfabrik kurz vor dem Ruin stand. Dieser älteste Sohn eines Traditionsunternehmens für Lederwaren und Seidenhandel war gesandt worden, um zu begutachten, ob man etwas retten konnte oder ob er andernfalls an Ausschlachtung interessiert wäre. Gewiss hätte man auf so ein Vorhaben abwehrend reagiert, aber das stellte sich als kaum möglich heraus.
Der schlanke braune Teufelskerl machte nicht nur wegen seiner durchdringenden Stimme Eindruck. Und als er zudem dem Hausherrn zusagte, dass er für seine Familie produzieren könne, da waren alle reichlich und positiv erstaunt – mehr noch, als sie von den Konditionen erfuhren.
Trotz seiner jungen Jahre, er befand sich in den frühen Zwanzigern, hatte er einen ausgeprägten Unternehmerverstand. Seine vielen Reisen über den Kontinent, in den Orient oder gar nach Übersee hatten seinen Blick für das Große und Ganze geweitet, und ihn das Kleine noch mehr schätzen lassen. So sah er in dieser kleinen Fabrik die Lösung für die hohe Nachfrage auf grobe Arbeiter*innenschuhe, und seine Familie konnte sich in der großen Stadt getrost weiterhin auf die Herstellung des schicken Schuhwerks konzentrieren, das bei der stetig aufstrebenden Bourgeoisie so beliebt war.
Die Pateneltern nahmen ihn daraufhin zur Abendveranstaltung von Friedgolds Nachbarin mit und dort erblickte er die feingliedrige, dunkelblonde Tochter des ortsansässigen Jägers.
Ohne zu überlegen, denn überlegen schadete von jeher seiner Selbstsicherheit gegenüber der Damenwelt, marschierte er auf sie zu, verbeugte sich gekonnt und bat um einen Tanz.
Erfreut willigte sie ein, und als er sie galant über das Parkett schob und ihr bereits zu lange in ihre bernsteinfarbenen Augen gesehen hatte, da war es um ihn geschehen.
Sie jedoch wirkte noch skeptisch. Zu tief saßen die Wunden, die die vormaligen Verehrer hinterlassen hatten und zu enttäuscht war sie vom Mannsvolk, das so eingeschnappt reagierte, weil sie besser schießen konnte.
Doch im Gegensatz zu eben jenen Männern dachte der Städter sich: »Was hab ich da für ein Prachtweib aufgetan!«, als er sie zu einem Ausritt zu zweit abholte, sie tatsächlich Hosen trug, breitbeinig auf das Pferd aufsaß und schließlich während des Rittes durch die Wälder ihrer Eltern einen Fuchs erschoss.
Und Alfreds Bewunderung imponierte Dorothea. Nie hätte sie zu träumen gewagt, dass einmal ein anderer Mann sie so vergöttern könnte wie ihr Papa.
Sie redeten angeregt miteinander und sie fühlte sich nicht albern, wenn sie ihm erzählte, sie interessiere sich für die Orchideenzucht. »Aber hier draußen … wie wäre es da möglich? 'Eine dekadente Fantasie', sagt selbst Papa.«
Sie sah ihn an und blickte dann wieder hinunter von dem Hochstand, der auf die angrenzenden Felder, Eigentum ihres Onkels, gerichtet war. Klatschmohn und kräftige Kornblumen blitzten zwischen dem Weizen hervor. »Ich werde schon noch lernen, mich mit den Blumen hier zufriedenzugeben«, endete sie.
Waren es denn wirklich nur die Blumen? War es nicht die Sehnsucht, das Fernweh, das der jungen Frau im Herzen saß?
»Ich denke nicht, dass Sie das nötig haben«, entgegnete Alfred, der sie auf angenehme Weise keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte, »was man sich vorzustellen vermag, ist auch möglich.«
»Herr Hoheloh … Sie wollen mir Mut machen!«, lachte sie, »Was stellen Sie sich vor?«
»Meine Wünsche sind klein«, gab er zu und blickte nun in die Ferne. Wenngleich seine Stimme ausgeglichen klang, hielten seine Finger nicht still. Ständig strich er sich unsichtbare Flusen von der Kleidung, fuhr sich durch die kastanienbraunen Haare, spielte mit der Reitgerte in seiner Hand.
»Ich will den Reichtum meiner Eltern erhalten, die Fabriken sanieren und meinen Arbeiterinnen und Arbeitern eine sichere Stelle bieten.«
Dorothea hatte dieses Wort in weiblicher Form noch nie aus dem Munde eines Mannes vernommen.
»Dazu muss ich Aufträge heranschaffen …«, endete Alfred.
»Träumen Sie nicht von Familie?«, fragte sie und strich ihre Hose glatt.
»Natürlich, doch das tue ich«, der Gesichtsausdruck, den er ihr schenkte, traf sie mitten ins Herz.
Dorothea nestelte an ihren großen weichen Locken und errötete hold. »Also eine Frau, die Ihnen Söhne schenkt …«
Er hielt noch immer ihren Blick gefangen. »Vor allem Töchter«, entgegnete er.
»So?«
»Gewiss doch. Was nützt mir all der Reichtum, wenn ich keine kleine Prinzessin im Haus habe, die ich beschenken, behüten und umsorgen kann?«
Sie lachte ihre immer schlimmer werdende Nervosität weg, ehe sie vorschlug: »Und was ist mit Ihrer Frau? Beschenken und verziehen Sie die nicht?«
»So eine Frau will ich nicht. Mein Weib soll sicher auch unseren Stand genießen, aber ich möchte, dass sie eine Abenteurerin ist wie ich, sich in erster Linie selbst verwirklicht und, so hoffe ich, mit mir arbeitet. Meinen Kreis, wie ich es nenne, erweitert, die Geschäftsfreundschaften mit mir pflegt, das Unternehmen repräsentiert. Letztlich das tut, was die Aufgabe von Unternehmergattinnen ist: gesellschaften«, sinnierte Alfred.
»Man sagt, ich sei ganz großartig im Gesellschaften.«
»Ist das so?«
Nun erst wurde ihr gewahr, wie das geklungen haben musste. Doch sie lachten zusammen und wechselten das Thema. Als er am nächsten Tag abfuhr, da verkniff sie sich tapfer die Tränen.
Nach einigen Wochen des zehrenden Wartens ereilte sie endlich ein Brief von ihm. Wie angekündigt befand er sich wieder im Orient. Wenige Tage später erhielt sie ein Päckchen, darin zwei Kaschmirschals, Teeblüten und – zu ihrer besonderen Freude – gepresste Orchideenblüten in allen möglichen Varianten. Kurz darauf sandte er ihr ein Buch über Orchideenpflege in englischer Sprache, dazu ein Fachwörterbuch.
Sie musste schallend lachen und sehr zum Ärger ihrer Eltern, umgaben ihren Kopf unsichtbare Luftwurzeln.
»So gerne würde ich Ihnen lebende Orchideen jeder Sorte, Größe, Farbe und Form schicken«, schrieb er ihr. Die Tinte glühte sichtlich. »Aber die Hoffnung, dass die armen Pflanzen diese Reise überleben würden, wäre genauso töricht wie verschwenderisch! Und sicher wären Sie mir am Ende böse, wenn Ihre erste eigene Orchidee bereits vertrocknet bei Ihnen ankäme.«
»Wie könnte ich jemals böse mit Ihnen sein?«, schrieb sie zurück, ihr Herz bis zum Halse schlagend.
»Nie ist mir ein Mensch begegnet, der gütiger und aufgeschlossener auftritt als Sie! Ich kann nicht umhin, es Ihnen zu gestehen – die Enge in den Köpfen der Menschen hier erdrückt mich zunehmend. Vor allem nun, da ich weiß, was dort weit hinter den Feldern meines Onkels liegt. Mir ist bewusst, dass es sündig ist, das zu sagen. Ich liebe doch meine Eltern und die Wälder und ja, auch die Weizenfelder. Aber dennoch bezweifle ich, dass, böten Sie mir an, mit Ihnen zu gehen, ich widerstehen könnte. Wenngleich mein Herz ohnehin schon bei Ihnen weilt – aus der großen Stadt, wollte es erst recht nicht mehr hinaus! Ich will mit Ihnen reisen, möchte für Sie gesellschaften. Ich will an Ihrer Seite arbeiten und die Sicherheit unserer Angestellten wahren. Ich will repräsentieren, fleißig sein, Reichtum genießen. Ich werde Ihre Königin sein und schwöre Ihnen eine kleine