Alvine Hoheloh. Amalia Frey
der als Trauzeuge herhalten musste, die nächstmögliche Zugverbindung. Sie trugen bereits die feldgraue Uniform, die Alfred schmeichelte, Heinrichs dickliche und hochgewachsene Erscheinung aber einzwängte, als Friedgolds sie am Bahnhof abholten.
»Heinrich Fürstenberg, viel von Ihnen gehört«, dienerte er vor ihr und schlug so gekonnt die Hacken zusammen, dass Dorothea erschrak.
»Seinem Vater gehören einige kleine Gerbereien vor der Stadt«, erklärte Alfred knapp.
»Ihm die Gerbereien und dir die Schuhfabrik? Alfred, nun veralberst du mich. Das ist ja eine Geschäftsfreundschaft, wie sie im Buche steht.«
Das Liebespaar lachte, aber Heinrich blickte beschämt wenn nicht gar erbost drein.
Die Trauung wurde in einer kleinen Kapelle abgehalten, die sich auf dem Grund ihres Onkels befand. Dorothea trug das lachsfarbene Ballkleid, welches sie an jenem Abend angezogen und somit die volle Aufmerksamkeit Alfreds bis in alle Ewigkeit gewonnen hatte. Dazu den winzigen kaum vergilbten Brautschleier ihrer Mutter.
Für einen gemeinsamen Hochzeitsschmaus und eine kurze Verabschiedung zu zweit im Flur blieb noch Zeit. »Habe keine Angst, mein Liebling«, schnurrte er zwischen drei Küssen, »ich kann gar nicht anders, als wohlbehalten zu dir zurückzukommen.«
»Ich habe keine Angst, Alfred. Kein Bräutigam lässt sich um die Hochzeitsnacht prellen.«
Mit ihrer kessen Weissagung sollte sie recht behalten, denn der Feind sah sich aufgrund eines geheimen Bündnisses einer Übermacht entgegenstehen. Als Dorothea Hoheloh ihren nun einäugigen Ehemann gut 200 Tage später in die Arme schloss, da gehörten ihre Länder einem Kaiserreich an.
Sie ließ ihn sich baden und seine übrigen Kriegsverletzungen gekonnt durch ihren Hausarzt zu Ende verarzten, ehe sie drängte, nun endlich die Ehe zu vollziehen.
Überrascht stellte er fest, wie geschickt sie ihn seiner Männerkleider entledigte. Wie sie ganz ohne Scheu mit ihren zarten Fingern und ihrer heißen Zunge über seine Haut fuhr, die mit seinem terrakottafarbenen Ton einen wunderschönen Kontrast zu ihrem Rosa bildete. Ihn, der noch zermürbt vom Krieg war, konnte es nur erfreuen, wie frei seine junge Frau ihre Lust erforschte, und sein Körper nahm die Zärtlichkeiten dankbar an. Bis zum Morgengrauen dauerte ihr reges Treiben an, und als der Hausarzt erneut nach ihm sah, mussten dem völlig übermüdeten Mann die Verbände neu befestigt werden.
Alfred nahm Dorothea zwei Tage später mit sich in die große Stadt. Er bezog mit ihr ein Haus an einer Seitenstraße, sodass sie sich langsam an den immerwährenden Lärm der Menschenmassen, vielfahrenden Droschken und anderen öffentlichen Verkehrsmittel gewöhnen konnte. Der Unterschied wirkte auf sie wie Tag und Nacht und wochenlang war sie euphorisch wie ein Kind am Heiligabend.
Sie besuchten Theaterstücke, Opern und Kaffeehäuser im Akkord, nachts liebten sie sich ausgiebig und unweigerlich begann Dorothea bereits das Gesellschaften in Alfreds Kreisen, organisierte Teekränzchen und Abendveranstaltungen.
Ihre Schwiegereltern waren begeistert von dem kessen Energiebündel und sagten ihr kurz darauf die erste große Reise zu, die sie mit ihrem Mann, geschäftsfördernd, antreten durfte.
Sie reisten in all den Jahren ständig umher, per Schiff und Bahn, via Kutsche und zu Fuß, zu Pferde und auch auf den Rücken orientalischer Träger. Wenn sie unterwegs waren, schickten sie exotisch anmutende Geschenke an Freundschaften und Familie, und sobald sie zu Hause weilten, kamen sie kaum hinterher, allen Einladungen nachzukommen.
Ihr erster Sohn Eduard Wilhelm wurde in einem Hotel am südlichen Ende des Reiches geboren. Dann folgten zwei Fehlgeburten, ehe Karl Ludwig Hoheloh fünf Jahre später im Orientexpress das Licht der Welt erblickte.
Lange Zeit hieß es nach dieser komplizierten Geburt, Dorothea könne nun gar keinen Kindern mehr das Leben schenken. Aber sie gab nicht auf, ihrem Liebsten den Wunsch nach seiner Alwine zu erfüllen, und forderte nicht ganz uneigennützig sein fortwährendes Beiwohnen ein.
Die Zeit zog ins Land, zwei Kaiser hatte das Volk zu Grabe getragen. Ein halbes Jahr nach dem Abtritt des eisernen Kanzlers gebar Dorothea im Hause ihrer Eltern ein dünnes Mädchen, mit dunklem dichten Haupthaar, Haut, deren helles Braun einen Roséstich trug, und mit grotesk langwirkenden Fingern und Beinen. Der schusslige Provinzstandesbeamte mit der gedrungenen Schrift schrieb in die Geburtsurkunde:
Alvine Friederike Hoheloh
Erst sahen sich die stolzen Eltern um den zweiten Haken zum W betrogen, aber dann fanden sie das V doch sehr hübsch, zumal der Name ihrer Tochter in seiner Originalform schändlich in Mode gekommen war.
Familie Hoheloh zog mit der ersehnten Prinzessin in ein neues hochherrschaftliches Anwesen im reichen Westen der großen Stadt. Ihr Reichtum und Erfolg waren unermesslich und sie gehörten längst zu den angesehensten Dynastien weit und breit.
Diese großbürgerliche Tochter – das war seit ihrer Geburt sicher – würde eine Rekordmitgift in eine Ehe bringen.
Aufeinandertreffen
Mai 1910: Die Worte ihrer geliebten Gönnerin klangen in Alvines Ohren nach, als sie das Café verließ: »Wie schade, ich hätte Sie so gerne studieren gesehen.«
Sie umklammerte die gelbe Broschüre fester, es sollte ihr letztes Andenken an ihr großes Vorbild sein. Zum Glück hatten sie sich nicht im Bösen getrennt, sogar Albernheiten ausgetauscht und dann hatte sie ihr eine Widmung in ihr Werk hineingeschrieben. Es würde nun ihr Talisman sein: das Buch jener Dame, die hohe Bildung für Frauen in diesem Land möglich gemacht hatte. Wegen ihr eroberten seit zwei Jahren zwar noch wenige, aber dafür sehr vorbildliche Studentinnen die Fakultäten, und ihre guten Noten ließen die männlichen Kommilitonen erblassen.
Es war zu spüren – ein neuer Wind wehte. Jeder Frau sollte bald das Recht zugesprochen werden, zu entscheiden. Ob sie ihre traditionelle Rolle bekleiden, also unter dem Schutz des männlichen Familienoberhauptes ihre Selbstverantwortung abgeben, oder ob sie mit den Männern Seite an Seite die wirtschaftlichen und politischen Vorgänge des Reiches mitbestimmen wollte.
Alvine Hoheloh war ein Blaustrumpf. Was ursprünglich als ein abwertender Begriff für ihresgleichen gelten sollte, hatte sie sich zu eigen gemacht. Sie trug blaue Strümpfe und hatte vor, sehr großen merkantilen Erfolg zu erlangen.
Ihre Gönnerin wusste um die Natur der jungen Kämpferin und hatte ihr ihr vollstes Vertrauen ausgesprochen, all dies zu erreichen, auch ohne ein ökonomisches Fach zu studieren. Dies in ihrem Herzen zu wissen, bekräftigte sie einmal mehr.
Alvine atmete tief durch und betrat die Straße. Kaum dass sie einige Schritte gelaufen war, meldeten sich die monatlichen Krämpfe von Neuem, was ihre ohnehin schmal gesäte Geduld noch mehr strapazierte. Die Sonne knallte ihr auf den dunklen Schopf, doch sie mochte den riesigen Hut nicht aufsetzen, der ihr von ihrem Vater mitgegeben wurde.
Alfred Hohelohs Haarwuchs war dünn und so vermochte er zeit seines Lebens nicht nachzuvollziehen, dass seiner Tochter die üppig gewachsene Lockenmähne schon schwer genug wog – noch dazu, wenn sie diese hochsteckte.
Zwei Damen, ausladend behütet und mit Sonnenschirm, passierten sie und brachen sogleich in aufgeregtes Getuschel aus. Etwa wegen ihrer lohbraunen Haut? Als wäre sie die einzige feine Person, die von Natur aus mit einem dunkleren Teint gesegnet war! Doch ihr ging auf, dass sie sich wohl sich über das lachsfarbene Kleid mit dem Glockenrock und der kleinen Schleppe lustig machten, weil es aus der letzten Saison war. Sie hingegen wirkten in ihren modisch aktuellen Humpelröcken wie Enten!
Alvine drehte sich zu ihnen um, die sich gerade selbst nach ihr umsahen, und flötete zuckersüß in ihre überraschten Gesichter: »Watschelt eurer eigenen Wege!«
Eine Droschke brachte sie zur voll befahrenen Friedrichstraße, von wo aus sie das letzte Stück zu Fuß ging, um im dichten Stau der Fahrzeuge nicht