Die Witwe und der Wolf im Odenwald. Werner Kellner
droht, dann ist das schon etwas anderes.“
Er hörte sie am Telefon schnauben, und jeder weitere Versuch sie zu beruhigen, ging schief. Sie wollte wissen, was er mit den Anzeigen des Gesundheitsamtes an die Pflegeheime zu tun habe, denn etwas Anderes hätte sie im Moment nicht auf dem Schreibtisch. Sie wurde immer erregter, je mehr sie sich in das Thema hineindachte und forderte ihn unmissverständlich auf Ross und Reiter zu nennen, und nicht so nebulös herum zu schwafeln. Mit der Art von Gefahr würde sie locker fertig, da sollte er sich mal keine Sorgen machen.
Er steckte zurück und brach das Gespräch ab, um sich nicht weiter zu exponieren.
„Sorry, meine Liebe, aber das ist heute offensichtlich der falsche Zeitpunkt für eine offene Unterhaltung, und ich denke, es ist besser, wenn du unser ganzes Gespräch wieder vergisst”, versuchte er sich zu retten.
Steffi legte auf und grübelte eine Weile über diesem so seltsamen Anruf und noch mehr darüber, was in dem Gespräch von Frank nicht gesagt wurde.
Kapitel 8
Odenwälder Zeitung, Artikel vom 10.8.2020.
Wie wir aus zuverlässiger Quelle erfahren, lässt die Senioren- und Pflegeoase „Jungbrunnen“, über deren skandalöse Zustände wir hier von Zeit zu Zeit berichten, wieder einmal nichts aus, was die Gesundheit der Heimbewohner gerade in der Zeit einer Höchstbelastung durch die Coronapandemie gefährdet. Bis Ende November sind von 142 Heimbewohnern, 86 an einer Coronainfektion erkrankt und davon sind 27 gestorben. Nicht oder schlecht qualifiziertes Personal tun ein Übriges. Man darf gespannt sein, wie lange es noch dauert, bis die Behörden reagieren.
G. J., Fürth
Fürth, Donnerstag, 13.8.2020, 06:00 Uhr
Als Georg Jährling den Briefkasten öffnete, um wie jeden Morgen sehr früh die Zeitung zu holen, die er beim Frühstück zu lesen gewohnt war, fiel ihm auch ein neutraler weißer Briefumschlag in die Hände. Nur sein Name war aufgedruckt.
Keine Briefmarke und keine Adresse, also war das Kuvert persönlich eingeworfen worden. Und da er seine gestrige Post erst abends, nachdem er aus der Redaktion nach Hause zurückgekommen war, entnommen hatte, musste der Brief irgendwann nachts eingeworfen worden sein.
Das war jetzt schon das zweite Schreiben, das zumindest äußerlich demjenigen ähnelte, den er vor einer Woche in den Papiermüll entsorgt hatte, nachdem er den Inhalt überflogen hatte und damit nichts anfangen konnte.
„Stopp sofort deine Fake News, du Lügner!“
Das war eine selten dämliche Aufforderung.
Seine Überwachungskamera war über der Haustür als Eingangslicht mit Bewegungsmelder getarnt, aber er hatte vergessen den Bewegungsmelder auf ‚Alarm-ein‘ zu schalten. Die Kamera lief deshalb nur im ‚Aufnahmespeichern‘ Modus.
Also entnahm er den Mikrochip aus der Kamera und sah sich auf seinem PC im Büro die letzten Aufnahmen an. Um 05:15 Uhr näherte sich eine Gestalt im Jogginganzug mit tief ins Gesicht gezogenem Hoody und warf ein Kuvert in den Briefkasten. Damit stand der Zeitpunkt fest, obwohl die Person, die den Brief einwarf, unerkannt blieb. Er nahm sich den Brief vor.
Der Umschlag enthielt ein weißes Blatt Papier und darauf mittig platziert und in der Schriftart ‚Arial Black‘ die Botschaft „Wer nicht hören will, muss fühlen!“.
Er brauchte noch nicht einmal seine Lesebrille aufzusetzen, um den Text zu lesen und zu verstehen. Obwohl der Text so prägnant formuliert war, ließ er doch einigen Interpretationsspielraum, was wirklich gemeint war. Georg war in seiner journalistischen Investigativtätigkeit eher breit aufgestellt, und berichtete über Einbruchserien, Pflegeheimskandale ebenso wie über Corona Auswüchse und zugehörige politische Botschaften sowie die Gegenreaktionen aufgebrachter Querdenker.
Der knappe Text enthielt keinerlei Hinweise auf den Absender und dessen vermeintliches Thema. Der Text war mit einem Laserdrucker auf einem handelsüblichen DIN-A4-Multifunktionspapier mit 80g/m2 Papiergewicht gedruckt. Er hielt die Seite gegen das Licht wegen eines Wasserzeichens.
Fehlanzeige.
Da er nichts Besseres fand, bestäubte er Kuvert und Papier mit 550er Weizenmehl, blies es über Spüle vorsichtig weg und stellte fest, dass es keine Fingerabdrücke aufwies. Jedenfalls sah er keine. Er überlegte kurz, ob er den Beschwerdebrief aufheben sollte, aber er entschied sich für die Rundablage in seinem Büro. Dann setzte er sich an den Küchentisch, um sein Frühstücksei mit Käsebrötchen und Kaffee zu genießen, und hatte den Brief nach der Lektüre des ersten Artikels in der Odenwälder Zeitung vergessen. Bis ihm auf Seite drei ein ganzseitiges Inserat der Seniorenoase Jungbrunnen in die Augen sprang, in dem das Heim in den hellsten Farben beschrieben und gelobt wurde.
Er ging nun doch im Geist seine letzten kritischen Berichte durch, und in den letzten zwei Wochen dominierte tatsächlich das Thema Corona, und dort hatte er sich insbesondere mit diesen funktionellen Analphabeten aus der Querdenkerszene, wie er sie nannte, auseinandergesetzt. Diesem Mob traute er sehr wohl Drohungen jedweder Art zu.
Und dann war da noch sein letzter Artikel, erschienen am 10. August, gegen diese skandalöse Seniorenoase Jungbrunnen, mit diesem irreführenden Motto im Namen, zu dem der dort praktizierte Pflegealltag überhaupt nicht passte. Als drittes Thema hatte er über diese Einbruchserie berichtet, bei der seit Monaten Geldautomaten aufgebrochen wurden. Zu keinem einzigen Einbruch fand bisher weder die Polizei noch sein Kumpel Willy Hamplmaier, der im Auftrag betroffener Banken in dem Fall privat ermittelte, eine Spur, die zu Serientätern führen könnte. Er hatte gelegentlich auch darüber berichtet oder besser gesagt, die Ineffektivität der Polizei angeprangert.
Er holte den Brief wieder aus dem Papierkorb und schob ihn in seine Schreibtischschublade. Um 07:30 Uhr verließ er das Haus, um in die Redaktion zu fahren, lange bevor Mia aufstand, denn der online Unterricht seiner Tochter begann erst um 09:00 Uhr und seine Schwiegermutter schlief sowieso länger.
Er trat auf den Bürgersteig und lief zum Auto, das er neben der Einfahrt geparkt hatte, als ihm sein Gefühl sagte, dass etwas nicht in Ordnung wäre. Bevor er noch den Gedanken zu Ende denken konnte, sah er sich zwei Maskierten gegenüber, die dem großgewachsenen Georg zwar nur bis zur Schulter reichten, aber muskulös und athletisch gebaut einen gut trainierten Eindruck als Kampfsportler machten.
Demjenigen, der von vorne kam, riss er zwar die Gesichtsmaske herunter, aber der von hinten schlug ihn brutal nieder. Als er am Boden lag, traten sie ihn beide herzhaft in die Rippen und gegen die Beine, denn die beiden Schläger wollten ihm offensichtlich nichts außer Schmerzen zufügen. Der Schmerz wurde so stark, dass er fast das Bewusstsein verlor, und er krümmte sich zusammen und hielt die Hände vor den Kopf, um sich zu schützen.
Der einzige Schutz, den er sich gönnte und immer bei sich trug, war seine Trillerpfeife. Er versprach sich davon eine stärkere Wirkung im Vergleich zur Anwendung von Pfefferspray. Man erreichte damit in einem Umkreis von einigen hundert Metern jede Menschenseele, auch die Schwerhörigen.
Mit höchster Anstrengung und zusammengebissenen Zähnen gelang es ihm, die Pfeife aus der Brusttasche zu ziehen, und nach den ersten durchdringenden Pfiffen ließen die beiden prompt von ihm ab. Er hatte die Trillerpfeife vorher noch nicht oft benutzen müssen, aber die Wirkung war immer wieder phänomenal.
Die beiden Schläger flüchteten zu Fuß in Richtung Marktplatz, wo sie ihr Auto abgestellt hatten. Die paar Minuten während die Schläger auf ihn eingeprügelt hatten, reichten jedenfalls aus, um ihn daran zu hindern, problemlos auf die Beine zu kommen. Er probierte es, als der erste Schmerz nachließ, aber der Schmerz war überall und so vehement, dass ihm die Tränen aus den Augen liefen, und er stöhnend zurücksank.
Mittlerweile war er von einigen Menschen umringt, die seine Trillerpfeife alarmiert hatte, und Mia und seine Schwiegermutter im Schlafrock standen