Vermisst in Nastätten. Ute Dombrowski
an. Sie sah ganz gut aus, aber die Ringe unter den Augen zeugten von den Sorgen, die sie belasteten. Am Anfang war es so schön gewesen, wieder einen Partner zu haben und Schmetterlinge im Bauch zu spüren. Die Schmetterlinge waren fort und Kälte und Angst hatten Einzug gehalten.
Sabine bereitete das Frühstück vor und bald zog frischer Kaffeeduft durch das Haus. Der lockte Michelle im Schlafanzug in die Küche. Sie küsste ihre Mutter auf die Wange.
„Guten Morgen, mein Kind. Was liegt heute an?“
„Ich gehe in die Schule und am Abend zu Resi lernen. Bio kriegt sie nicht allein hin, aber mit meiner Hilfe wird das schon gut gehen.“
„Sehr gut, dann setz dich, damit wir zusammen frühstücken können.“
„Kommt Robert auch?“
Sabine nickte.
„Dann esse ich in meinem Zimmer.“
„Aber Michelle …“
„Nein Mama, ich setze mich mit dem Schläger nicht mehr an einen Tisch.“
„Er hat sich doch entschuldigt und es wird nicht wieder vorkommen.“
Sabine schämte sich abgrundtief.
„ER hat sich entschuldigt?“, sagte Michelle aufbrausend. „DU hast das in seinem Namen getan, denn dieser Typ hätte es niemals gemacht. Wenn du es mit ihm aushältst, bitte, aber ich bin raus. Ich wurde geschlagen und du solltest ihn vor die Tür setzen.“
„Wenn hier jemand vor die Tür gesetzt wird, dann wohl eher du!“, kam eine tiefe Stimme von hinten.
Sabine und Michelle zuckten zusammen. Wie viel hatte er von ihrem Gespräch mitbekommen? Robert baute sich vor Michelle auf. Er zitterte vor Wut. Mit festem Griff packte er ihr ins Haar und stieß sie gegen die Wand. Das Mädchen schrie auf. Er ließ los und starrte sie an.
„Fräulein, reiß dein dummes Maul nicht so weit auf. Mich schmeißt niemand aus dem Haus. Geh vor!“
Er drängte sie aus der Küche und in Richtung Kellertreppe.
„Runter!“
Schritt für Schritt und mit der Angst im Nacken, der Freund ihrer Mutter würde sie stoßen, ging Michelle die Treppe hinunter. Robert schob sie zum Heizungskeller, öffnete die Tür und stieß sie hinein. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, der Schlüssel drehte sich und wurde abgezogen. Michelle rappelte sich auf und trommelte mit beiden Fäusten dagegen.
„Mach auf, du Arsch, ich muss zur Schule!“
Er schlug mit der Faust gegen die Tür und brüllte: „Du musst nirgendwo hin!“
Oben in der Küche stand Sabine wie versteinert. Als Robert wieder vor ihr stand, war er immer noch wütend. Er packte Sabine am Arm.
„Kannst du mir mal sagen, was hier los ist?“
In einem Anflug von Leichtsinn sagte Sabine: „Das frage ich dich! Was haben wir dir denn getan, dass du so böse bist? Hast du Sorgen oder Ärger? Dann rede mit mir! Hast du eine andere?“
Robert gab ihr eine schallende Ohrfeige und lachte laut.
„Mann, ich habe keine andere und auch keine Sorgen. Ich bin halt manchmal sauer und ihr macht nur, was ihr wollt. Ihr seid total egoistisch!“
„Nur weil ich einmal alle zwei Wochen die Mädels treffe, bin ich doch nicht egoistisch. Ich kümmere mich doch sonst immer um dich. Bitte lass uns reden.“
„Ich mag aber nicht reden. Du hast ein gutes Zuhause und musst nirgends hin. Bleib einfach mit deinem Arsch hier und mach deine Arbeit.“
„Ich werde heute Abend in die Gondola gehen.“
„Du wirst was?“
„Ich gehe in die …“
Weiter kam Sabine nicht. Roberts Gesichtszüge veränderten sich zu einer zornigen Grimasse. Rasend vor Wut zerrte er sie zu Michelle in den Keller, steckte den Schlüssel ins Schloss des Heizungskellers und öffnete die Tür. Michelle dachte, Robert lässt sie wieder raus, aber stattdessen fiel ihr Sabine weinend vor ihre Füße. Das Mädchen konnte nicht mehr atmen, der Anblick ihrer Mutter auf dem Boden hatte ihr einen Schock versetzt.
„So, jetzt zeige ich euch mal, wo ihr hingeht. Nämlich nirgends!“, brüllte Robert, um gleich darauf mit gefährlich leiser Stimme weitersprach. „Schreit ruhig, euch hört niemand. Ich bin Freitagabend wieder da. Und bis dahin verhaltet ihr euch ruhig, sonst passiert was.“
Dabei trat er nach Sabine, die immer noch zusammengekauert auf dem Boden lag. Er verließ den Keller. Michelle half Sabine auf und nahm die zitternde Frau schützend in den Arm. Nach zehn Minuten hörten Sabine und Michelle Robert noch einmal zurückkommen. Die Tür wurde aufgerissen und ein Eimer flog hinein.
„Das ist euer Klo! Hier ist Wasser und etwas zu essen.“
Er schob einen Einkaufskorb mit dem Fuß hinein und knallte die Tür zu. Sabine und Michelle blieben sprachlos und überwältigt zurück. Unfassbares Entsetzen hatte sie ergriffen und sie sahen sich ängstlich an.
„Oh mein Gott“, schluchzte Sabine. „Was machen wir denn jetzt?“
Michelle nahm sie wieder in den Arm.
„Ich weiß es nicht. Die in der Schule werden mich vermissen und deine Freundinnen heute Abend auch. Hast du dein Handy?“
„Nein, er hat es mir weggenommen. Du?“
„Liegt in meinem Zimmer.“
Sie hielten sich fest, bis Michelle in dem düsteren, stickigen Raum eine alte Picknickdecke und ein paar Kartons in der Ecke hinter dem Wasserkessel entdeckte. Sie schaute in die Kartons, aber die waren leer. Darum zerrte sie so lange an ihnen, bis eine glatte Pappe vor ihr lag. Darauf legte sie die Decke und zog den Korb heran. Sabine schluchzte, setzte sich aber zu Michelle.
„Wenigstens ist es warm. Komm, Mama, wir frühstücken.“
„Ich schäme mich so!“
„Das musst du nicht.“
„Doch, ich bin deine Mutter und hätte dich beschützen müssen. Und nun bist du die Starke und hast viel mehr Mut als ich.“
Endlich fasste Sabine Mut und erzählte Michelle, was in den letzten Wochen geschehen war. Die Erniedrigungen, die Schläge, die Drohungen – all das hatte sie verändert und zu einem zitternden Wrack gemacht, das sich alles gefallen ließ. Das musste sich ändern!
„Wenn wir hier lebend rauskommen, gehen wir zur Polizei.“
Michelle nickte und verbarg ihre Angst. Ob sie hier jemals wieder rauskamen? Auf jeden Fall hatten sie jetzt zwei Tage Ruhe vor diesem unberechenbaren Mann da oben. Es fühlte sich an, als habe er sich wie ein Parasit in ihr Leben geschlichen, um es zu zerstören.
In der Küche frühstückte Robert und ließ sich Zeit. Die Frauen waren gut untergebracht. Was hatte er sich nur dabei gedacht, sich auf eine Beziehung einzulassen? Ja, er hatte ein paar Probleme, aber in seiner kleinen Wohnung in Frankfurt hätte er auch gut allein zurechtkommen können. Dann war alles schief gegangen. Zuerst war es ein Glücksfall gewesen, als er Sabine getroffen hatte. So konnte er bei ihr unterkommen.
Jetzt fiel ihm dieser Mädelsabend ein und er nahm ihr Handy aus der Tasche. Er tippte: „Liebe Undine, ich kann heute Abend nicht bei euch sein, denn ich muss zu meiner Tante nach Düsseldorf. Sie ist ausgerutscht und hat sich ein Bein gebrochen. Ich werde ihr ein wenig zur Seite stehen. Deine Sabine.“
Weil er vorher andere Nachrichten gelesen hatte, um Sabines Art zu schreiben nachzuahmen, fand er den Text sehr gelungen, als er ihn laut vorlas. Bei Undine hatte sie sich immer mit „Deine Sabine“ verabschiedet, also passte alles. Er drückte auf Senden und schaltete das Handy aus. Ohne sich weiter um die beiden Frauen im Keller zu kümmern, machte er sich auf den Weg.
9