Der Horla. Guy de Maupassant

Der Horla - Guy de Maupassant


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Seit gestern bin ich wieder daheim. Alles geht gut.

      2. August. – Nichts Neues. Das Wetter ist prachtvoll, ich sitze den ganzen Tag am Fluß und sehe die Wasser der Seine fließen.

      4. August. – Zwischen meinen Dienstboten hat es Streit gegeben. Sie behaupten, daß jemand nachts in den Schränken die Gläser zerbricht. Der Diener schiebt es auf die Köchin, die Köchin auf das Mädchen und die wieder auf die anderen. Wer ist der Schuldige? Wer 's sagt müßte schlau sein!

      6. August. – Jetzt bin ich aber nicht verrückt. Ich habe gesehen, ich habe gesehen – ich habe gesehen! Ich kann nicht mehr zweifeln, ich habe es gesehen. Ich zittere noch bis zu den Fußspitzen, mir läuft es noch über den Rücken, daß mir das Mark in den Knochen erstarrt. Ich habe es gesehen.

      Um zwei Uhr ging ich in hellem Sonnenschein zwischen meinen Rosenbeeten spazieren, zwischen den Herbstrosen, die eben anfangen, zu blühen.

      Als ich stehen blieb und eine Géanit des batailles betrachtete, die drei wundervolle Knospen trug, sah ich ganz deutlich, ganz nahe neben mir, einen der Stiele sich herumlegen, als ob eine unsichtbare Hand ihn gefaßt hätte, sah ihn abbrechen, wie wenn diese Hand ihn gepflückt. Dann hob sich die Blume und beschrieb einen Bogen, wie etwa ein Arm ihn beschrieben hätte, der sie zum Riechen an die Nase geführt. Dann blieb die Blume in der durchsichtigen Luft hängen, ganz allein, unbeweglich, ein fürchterlicher roter Fleck, drei Schritte von mir entfernt.

      Ich stürzte mich ganz erschrocken auf die Rose, um sie zu packen. Ich fand nichts, sie war verschwunden. Da überkam mich eine fürchterliche Wut gegen mich selbst, denn ein vernünftiger, ernster Mann darf doch nicht solchen Einbildungen unterliegen.

      Aber war es auch wirklich eine Einbildung? Ich drehte mich wieder um, um den Stiel zu suchen und fand ihn an dem Rosenstrauch mit einer frischen Bruchstelle zwischen zwei anderen Rosen, die am Zweige geblieben waren.

      Da ging ich ganz außer mir nach Hause, denn nun weiß ich bestimmt, so bestimmt, wie Tag und Nacht einander abwechseln, daß in meiner Nähe ein Wesen existiert, das Milch und Wasser trinkt, das Dinge berühren, sie in die Hand nehmen, sie hier und dorthin thun kann, das demnach eine Art materieller Natur besitzen muß, obgleich unsere Sinne es nicht wahrnehmen können, ein Wesen, das wohnt wie ich, – unter meinem Dache.

      7. August. – Ich habe ruhig geschlafen. Er hat das Wasser aus meiner Flasche getrunken, aber meinen Schlaf nicht gestört.

      Jetzt frage ich mich: bin ich verrückt? Als ich vorhin im hellen Sonnenschein spazieren ging am Flusse, kamen mir Zweifel an meiner eigenen Zurechnungsfähigkeit, nicht allgemeine Zweifel wie bisher, sondern ganz bestimmte. Ich habe Wahnsinnige gesehen, ich habe welche gesehen, die sonst ganz klar und vernünftig waren und alle Dinge dieses Lebens scharf erfaßten bis auf einen Punkt. Sie konnten ganz klar, sogar sehr gewandt, über etwas sprechen, und dann plötzlich, wenn ihre Gedanken die Schwelle des Wahnsinns überschritten hatten, zerriß die Gedankenkette und sie tauchten unter in den fürchterlichen Ozean, wo Wellen steigen und fallen, Nebel brauen, Stürme tosen, den Ozean den man nennt: »Wahnsinn!«

      Wenn ich nicht über mich selbst im reinen wäre, wenn ich nicht meinen eigenen Zustand kennte, wenn ich mich nicht selbst ganz klar und ruhig beobachten könnte, würde ich meinen, ich sei verrückt, vollkommen verrückt. Ich kann also nur ein Vernünftiger sein, der unter Wahngebilden leidet. In meinem Gehirn muß sich irgend eine Störung befinden, eine jener Störungen, denen heute die Physiologen auf den Grund zu kommen suchen und diese Störung müßte in meinem Geiste, in der Logik und Ordnung meiner Gedanken eine tiefe Kluft gerissen haben. Ähnliche Erscheinungen findet man im Traume, wenn wir die wundersamsten Wahngebilde vor uns sehen, ohne daß uns das weiter wundert, weil der Wahrheitssinn, die Möglichkeit uns zu kontrollieren, eingeschläfert ist, während die Einbildungskraft wach bleibt und arbeitet. Könnte nicht irgend eine jener Nerventasten des Gehirnes bei mir gelähmt sein? Es kommt vor, daß Menschen nach irgend einem Unglücksfall das Gedächtnis für Eigenennamen, bestimmte Worte und Ziffern oder auch nur für Jahreszahlen verlieren. Es ist heute vollkommen bewiesen, daß alle Momente des menschlichen Denkens an bestimmten Stellen unseres Gehirns lokalisiert sind. Es wäre also weiter nicht erstaunlich, wenn die Fähigkeit, etwa die Unwirklichkeit einzelner Erscheinungen festzustellen, gerade jetzt bei mir eingeschlafen wäre.

      An all das dachte ich, als ich am Wasser entlang ging. Die Sonne schien hell auf den Strom. Die Natur war köstlich und ihr Anblick erfüllte mich mit Lebensfreude, ich sah vergnügt den Schwalben zu, deren schneller Flug mich immer entzückt, betrachtete die Gräser am Ufer, deren Rauschen mir wohlthut.

      Und trotzdem überschlich mich allmählich ein unerklärliches Gefühl des Unbehagens, eine Gewalt überfiel mich, scheinbar eine geheime Kraft lähmte mich, daß ich nicht weiter gehen konnte, und zwang mich umzukehren. Ich empfand jenes schmerzliche Bedürfnis, nach Hause zu gehen, das einen manchmal überkommt, wenn man in der Wohnung einen geliebten Kranken zurückgelassen hat und man nun plötzlich ein Vorgefühl hat, als könnte er kränker werden.

      Ich kehrte also gegen meinen Willen um, in der bestimmten Überzeugung, daß ich zu Hause irgend eine böse Nachricht vorfinden würde, einen Brief, oder ein Telegramm. Aber es war nichts da. Und ich war fast noch erstaunter und noch mehr beunruhigt, als ob ich irgend welche phantastische Visionen gehabt.

      8. August. – Das war ein füchterlicher Abend gestern! Er zeigt nicht mehr seine Gegenwart an, aber ich fühle, daß er bei mir ist, mich belauert, mich betrachtet, mich durchdringt, mich beherrscht und noch fürchterlicher dadurch wird, daß er sich versteckt, fürchterlicher, als wenn er durch übernatürliche Erscheinungen seine unsichtbare Gegenwart anzeigte.

      Und doch habe ich geschlafen.

      9. August. – Nichts. Aber ich habe Angst.

      10. August. – Nichts. Was wird morgen geschehen?

      11. August. – Immer noch nichts, aber ich kann mit dieser Furcht unausgesetzt und diesem Gedanken in der Seele nicht mehr zu Hause bleiben; ich werde ausgehen.

      12. August zehn Uhr abends. – Ich wollte den ganzen Tag fortgehen, ich konnte nicht, ich wollte diese einfache That der Befreiung, nämlich auszugehen, in den Wagen zu steigen und nach Rouen zu fahren, ausführen, aber ich konnte nicht. Warum?

      13. August. – Wenn man von gewissen Krankheiten befallen wird, so ist es, als ob der ganze Körper zerbrochen wäre, als ob man keine Thatkraft mehr besäße, als ob alle Muskeln schlaff würden, die Knochen weich wie Fleisch und das Fleisch flüssig wie Wasser. Diesen selben Zustand fühle ich im Geiste auf seltsam-traurige Art. Ich habe keine Kraft mehr, keinen Mut, keine Selbstbeherrschung, keine Möglichkeit, meinen Willen auf irgend etwas zu konzentrieren, ich kann nicht mehr wollen, aber ein anderer will für mich und ich gehorche.

      14. August. – Ich bin verloren. Jemand hat von meiner Seele Besitz ergriffen und beherrscht sie, jemand befiehlt alles, was ich thue, alle meine Bewegungen, alle meine Gedanken, ich bin nichts als »Ich«, ich bin nur ein gefesselter Zuschauer und sehe alles entsetzt mit an, was ich thue. Ich möchte ausgehen, ich kann nicht, er will es nicht, und ich bleibe zitternd in dem Stuhl sitzen in dem er befiehlt, daß ich sitzen soll. Ich möchte mich nur aufrichten, mich erheben, um mir selbst zu beweisen, daß ich noch Herr meiner selbst bin, ich kann nicht, ich bin an meinen Sitz genagelt und mein Sitz wieder klebt am Boden, daß keine Kraft der Erde uns aufheben könnte.

      Dann plötzlich – plötzlich muß ich, muß ich in den Garten hinunter gehen, Erdbeeren pflücken und sie essen, und ich gehe, ich pflücke Erdbeeren und ich esse sie. O, mein Gott! Mein Gott! Mein Gott! Giebt es einen Gott? Wenn es einen giebt: Gott so erlöse mich! Rette mich! Habe Erbarmen mit mir und Mitleid! Rette mich! Nein, diese Leiden, diese Qualen, welch Entsetzen!

      15. August. – So muß meine arme Cousine beherrscht gewesen sein, als sie zu mir kam, um die fünftausend Franken zu borgen. Ein anderer Wille war in sie hineingeschlüpft, dem sie gehorchen mußte, eine andere Seele, eine Seele wie eine überwuchernde Schmarotzerpflanze. Geht denn die Welt unter?

      Aber wer beherrscht mich? Wer ist dieses unsichtbare Wesen, dieses Wesen, das ich nicht kenne, dieser Landstreicher aus übernatürlichem Stamm? Es giebt also Geister?


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