Der Horla. Guy de Maupassant
was bei mir vorgeht. O, wenn ich mein Haus verlassen könnte, wenn ich fortgehen könnte, fliehen und nie wiederkommen? Dann wäre ich gerettet. Aber ich kann nicht.
16. August. – Heute gelang es mir, zwei Stunden lang hinauszukommen, wie ein Gefangener, der zufällig die Thür seiner Zelle offen findet. Ich fühlte plötzlich, daß ich frei war, und er nicht da. Da habe ich Befehl gegeben, schnell anzuspannen und bin nach Rouen gefahren. O, welche Wonne, jemandem der wirklich gehorcht, befehlen zu können: »Fahren Sie nach Rouen!«
Vor der Bibliothek habe ich halten lassen und gebeten, man möchte mir die große Abhandlung des Dr. Hermann Herestauß über die unbekannten Bewohner der Welt im Altertum und in der Gegenwart geben.
Als ich dann wieder in meinen Wagen stieg, wollte ich sagen: zum Bahnhof. Und trotzdem habe ich geschrieen, nicht gesprochen, sondern geschrieen mit so lauter Stimme, daß die Vorübergehenden sich umdrehten: nach Hause! und dann bin ich zitternd vor Aufregung in die Kissen meines Wagens gesunken. Er hatte mich wieder gefunden und mich von neuem gepackt.
17. August. – O, diese Nacht! Welche Nacht! Und doch ist es mir, als müßte ich mich freuen. Bis ein Uhr morgens habe ich gelesen. Hermann Herestauß, Doktor der Philosophie und Theogonie, hat die Geschichte und Manifestationen aller unsichtbaren Wesen, die den Menschen umschweben oder von denen er träumt, beschrieben. Er beschreibt ihren Ursprung, ihr Gebiet, ihre Macht, aber keiner von ihnen ähnelt dem, der mich quält. Es ist, als ob der Mensch, seitdem er denkt, ein neues Wesen geahnt und gefürchtet hat, das stärker ist als er selbst, das Wesen, das sein Nachfolger auf der Erde wird und das er, da er es nahe fühlt und die Natur dieses Herrn nicht durchschauen kann, erschaffen hat in seinem Schrecken; das ganze Zaubervolk der unsichtbaren Geister, leere Schemen, Ausgeburten einer geängstigten Phantasie.
Als ich nun bis gegen ein Uhr morgens gelesen hatte, setzte ich mich an's offene Fenster, um meine Stirn und meine Gedanken zu erquicken, im lauen Hauch der Nacht.
Es war schön, es war mild! Ach wie hätte ich früher solch eine Nacht genossen!
Kein Mond am Himmel. Die Sterne flimmerten am dunklen Himmel. Wer bewohnt diese Welten? Welche Gestalten? Welche Wesen, welche Tiere, welche Pflanzen gedeihen dort? Wissen diejenigen, die dort in fernen Welten denken, mehr als wir? Was können diese Wesen mehr? Was sehen sie, das wir nicht kennen? Wird nicht eines von ihnen früher oder später den Weltenraum durcheilen und auf unserer Erde landen um sie zu erobern, wie einst die Normannen durch die Meere fuhren, schwächere Völkerschaften zu unterjochen.
Wir sind so schwach, waffenlos, wehrlos, unwissend, so klein, wir Menschen, auf diesem Sandkorn in einem Wassertropfen!
Ich nickte, wie ich so im frischen Abendwind träumte, ein; als ich etwa vierzig Minuten geschlafen haben mochte, öffnete ich die Augen ohne irgend eine Bewegung, weil etwas Wundersames mich aufgeweckt haben mußte. Zuerst sah ich nichts. Dann plötzlich war es mir, als ob eine Seite des Buches, das auf meinem Tisch vor mir offen liegen geblieben war, sich von selbst umgewendet hätte. Kein Luftzug konnte durch das Fenster gekommen sein. Ich war erstaunt und wartete. Nach vier Minuten etwa sah ich – sah ich – ja wahrhaftig, sah ich mit eigenen Augen, wie die nächste Seite sich hob und sich auf die vorhergehende umlegte, als ob sie eine Hand herumgeblättert. Mein Stuhl war leer, schien leer zu sein, aber ich begriff, daß er dort saß, dort auf meinem Platz und las. Mit einem furchtbaren Satz, wie ein wildes Tier, das seinem Bändiger den Leib aufschlitzen will, fuhr ich durch das Zimmer, ihn zu packen, ihn zu erwürgen und zu töten. Aber ehe ich den Stuhl erreicht hatte, fiel er um, als ob etwas vor mir geflohen fei. Mein Tisch schwankte, die Lampe stürzte und erlosch, und das Fenster schlug zu, als ob ein ertappter Verbrecher sich in die Nacht hinaus gerettet hätte, indem er die Fensterflügel mit beiden Händen erfaßte.
Er war also entflohen. Er hatte Angst gehabt, Angst vor mir.
Ich werde ihn also morgen, oder später einmal an irgend einem Tag in meinen Händen, in meinen Fäusten halten und ihn zu Boden drücken können; beißen und töten nicht manchmal Hunde ihren Herrn?
18. August. – Ich habe den ganzen Tag über nachgedacht. Ja, ich werde ihm gehorchen, ich werde seinen Eingebungen folgen, ich werde seinen Willen erfüllen, ich werde mich dienstbar machen, unterwürfig und feige. Er ist stärker, aber die Stunde wird kommen . . . .
19. August. – Ich weiß – ich weiß – ich weiß Alles. Ich habe eben in der Revue du Monde Scientifique Folgendes gelesen:
Aus Rio de Janeiro kommt eine wunderbare Nachricht. In diesem Augenblick wütet in der Provinz San Paolo eine Art epidemischer Verrücktheit, die man den ansteckenden Krankheiten vergleichen muß, mit denen im Mittelalter die Völker Europas heimgesucht wurden. Die Einwohner verlassen verstört ihre Häuser, geben ihre Dörfer auf, lassen ihre Äcker im Stich, weil sie sich für verfolgt halten, besessen, beherrscht, wie Tiere in Menschengestalt, durch Wesen, die unsichtbar sind, obgleich man sie berühren kann, durch Vampyr-gleiche Wesen, die sich nächtens von ihrem Leben nähren, und die außerdem Wasser und Milch trinken, ohne daß sie, wie es scheint, andere Nahrung berühren.
Professor Don Pedro Henriquez ist in Begleitung von mehreren bekannten Ärzten nach der Provinz San Paolo gereist, um an Ort und Stelle Ursachen und Symptome dieser eigenartigen Gestörtheit zu studieren und dem Kaiser die geeignetsten Maßregeln, um die von der Krankheit ergriffene Bevölkerung wieder zur Vernunft zu bringen, vorzuschlagen.
O, ich erinnere mich jetzt, ich erinnere mich des wunderschönen brasilianischen Dreimasters, der am letzten 8. Mai die Seine herauf unter meinen Fenstern vorüber fuhr. Ich fand ihn damals so hübsch, so hell, so freundlich. Das Wesen war darauf. Es kam von da drüben, wo es herstammt, es hat mich gesehen, hat mein weißes Haus gesehen und ist vom Schiff in den Strom gesprungen. O mein Gott! Mein Gott!
Nun weiß ich Alles. Nun errate ich es. Die Zeit, da der Mensch herrschte, ist vorüber.
Er ist gekommen, er, der die erste Furcht der frühesten, naiven Völkerschaften war, »Er«, den die geängstigten Priester austrieben, den die Zauberer in dunklen Nächten anriefen, ohne daß er ja erschienen wäre, dem vorahnend die flüchtigen Herren der Welt all die riesigen oder zierlichen Gestalten der Riesen, Gnomen, Geister, Feen, Kobolde liehen. Nach den groben, aus einer primitiven Furcht geborenen Vorstellungen empfanden feinsinnigere Menschen ihn deutlicher. Mesmer hat ihn geahnt und seit zehn Jahren schon haben die Ärzte genau das Wesen seiner Macht festgestellt, ehe er sie ausgeübt hat. Sie haben mit der Waffe des neuen Herrschers gespielt: der Fähigkeit, einen geheimen Willen der gefesselten menschlichen Seele aufzuzwingen, sie haben es Magnetismus, Hypnotismus, Suggestion und ich weiß nicht was alles genannt. Ich habe gesehen, wie sie sich gleich unvorsichtigen Kindern mit dieser fürchterlichen Macht unterhielten. Wir unglücklichen, unseligen Menschen! Er ist gekommen, der – der, wie heißt er – der – es ist mir, als riefe er mir seinen Namen zu und ich höre ihn doch nicht, der – ja, er ruft ihn, ich lausche, ich kann nicht, wiederhole, der – Horla, – ich habe es gehört, – der Horla, – der ists, – der Horla – ist da!
O, der Geier hat die Taube verzehrt, der Wolf das Schaf gefressen, der Löwe den Büffel trotz seiner spitzen Hörner verschlungen. Der Mensch wieder hat den Löwen mit Pfeil, Schwert, Pulver und Blei getötet. Aber der Horla wird aus uns Menschen machen, was wir aus Pferd und Ochsen gemacht haben: seine Sache, seinen Diener, seine Speise, allein durch die Kraft seines Willens. Wir unglücklich Unseligen!
Und doch empört sich manchmal das Tier und tötet den, der es gebändigt hat. Ich will auch . . . ich könnte . . . aber man müßte ihn kennen, ihn berühren, ihn sehen. Die Gelehrten sagen, daß das Auge des Tieres von dem unsrigen verschieden ist, nicht so sieht, wie unser Auge, . . . und mein Auge kann den neuen, Ankömmling, der mich unterdrückt, nicht erkennen!
Warum? O, jetzt erinnere ich mich an die Worte des Mönchs vom Mont-Saint-Michel: »Sehen wir den hunderttausendsten Teil von dem, was es giebt. Der Wind zum Beispiel, die größte Kraft der Natur, der Menschen umwirft, Gebäude niederlegt, Bäume entwurzelt, der das Meer in Wogenbergen aufwühlt, der Klippen und Felsen zerschmettert und der die größten Schiffe hinaus in die Brandung wirft, der Wind, der tötet, pfeift, seufzt und stöhnt – haben Sie ihn gesehen und können Sie ihn sehen? Und er existiert trotzdem.