Todgeweiht im Odenwald. Werner Kellner
hatte den Tag seinerseits mit einem ausgiebigen Frühstück eröffnet, und seine Empfangsantenne für die Gefühle seiner Liebsten war dem Duft des Spiegeleies unterlegen und abgeschaltet. Außerdem kreisten seine Gedanken um den bevorstehenden Grabbesuch von Alina. Steffi wiederum war ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, und stocherte in ihrem Müsli herum. Der Haferbrei war nicht imstande, ihre Magennerven zu beruhigen.
Sie hatte sich beim Frühstück entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten drastisch zurückgehalten und saß für ihre Verhältnisse schweigsam am Tisch.
Das Schweigen überdauerte sogar die Autofahrt zum Friedhof, ohne dass sich irgendeine Konversation entwickelt hätte.
Sie stieg zusammen mit den anderen aus dem Auto auf dem Parkplatz am ‚Ruheforst‘ in Erbach und ähnelte mehr der Zombiemaske, in die sie sich auf dieser missglückten Halloweenparty vor zwei Tagen geschminkt hatte.
Steffi verabscheute Grabbesuche aller Art, weil ihr die Erinnerung an jene, die ihr im Leben etwas bedeutet hatten, immer seelische Schmerzen zufügte.
Das Gefühl war nicht mit dem zu vergleichen, das ihr das Samhain-Fest zu vermitteln imstande war. Ein Ereignis, bei dem es im Gegensatz zu Allerseelen mehr um die Wechselwirkung zwischen Leben und Tod ging.
Allein die Friedhofsatmosphäre genügte, um mit dem Gedanken an den Tod einen endgültigen Abschied zu verbinden. Und das vertrug ihr Gemüt zu normalen Zeiten nicht und heute schon gar nicht.
Und so stapfte sie an diesem Morgen mit blassem Gesicht und wenig begeistert hinter ihren beiden Ermittler-Chefs vom Parkplatz am ‚Ruheforst‘ in Erbach in Richtung Waldfriedhof.
Willy der Bestatter aus Michelstadt hatte Alina, Eminas Mama, und die ermordete Ehefrau von Hans, bei Nacht und Nebel vor elf Jahren im Ruheforst beigesetzt, und dieses war das erste Allerseelenfest, an dem Hans ihr Grab besuchen kam.
Alina, die sie weder gekannt hatte und zu der sie posthum keine Beziehung wünschte, denn egal wie man die Vergangenheit betrachtete, Alina hatte damals ihre Liebe gestohlen.
Sie schaffte es nicht, am Grab irgendwelchen entschwundenen Zeiten nachzutrauern.
Vor allem, wenn es sich um schmerzhafte Erinnerungen handelte.
Sie freute sich lieber mit den Lebenden.
Am Grab fühlte sie sich leer wie ein Vakuumgefäß.
Und das Vakuum in ihr wurde dunkler und leerte sich weiter, je länger sie am Ort von Alinas Beisetzung verharrte.
Dabei beherrschten Leere und Dunkelheit niemals ihr Leben.
In normalen Zeiten drängte ihr flippiger Charakter gnadenlos und blitzschnell dunkle Gedanken ins Abseits, sobald sie aus irgendwelchen Ecken krochen.
Zu Willys Frau Anna, deren Grab sie unmittelbar vorher auf dem Erbacher Friedhof besucht hatten, hatte sie ein völlig anderes Verhältnis, aber sogar diesen Grabbesuch hatte sie eher widerwillig absolviert. Sie hatte Anna gekannt, seit Willy sie aus Spanien angeschleppt hatte. Sie hatte die gesamte Phase der schleichend stärker werdenden Depression erlebt.
Wie oft hatte sie Anna in der Klinik besucht, in die Willy sie einweisen ließ, weil er das tägliche Miteinander zu Hause nicht mehr aushielt und ihre Seelenkrankheit nicht vertreiben konnte.
Ehrlich gesagt, tendierte die Stimmung bei Willy Hamplmaier und seinem Sohn Hans Hämmerle gleichermaßen zur dunklen Farbskala.
Die Ehre, die sie ihren toten Ehefrauen zu erweisen beabsichtigten, ließ dank der tragischen Umstände, unter denen beide gestorben waren, keine andere Einstellung zu.
Für Steffi kam zu der seelischen Bedrücktheit die körperliche Belastung dazu.
Und das war das eigentliche Übel.
Ihr war kotzübel.
Und das war womöglich maßlos untertrieben.
Der Drang, sich ständig zu übergeben, hatte sich ihrer schon seit Tagen bemächtigt, und der Impuls, jede Art von Essen gleich wieder in der Toilette hinunter zu spülen, nahm tendenziell zu.
Von ihren drei Begleitern war nur Emina ihr Zustand aufgefallen.
Aber die schwieg und wartete, bis sich ihre Freundin unaufgefordert offenbaren würde.
Im Moment sah es nicht danach aus, ob Steffi bereit wäre, über die Gründe ihrer Nausea zu sprechen.
Dem mit gesetzten Schritten vor Emina hergehendem Papa war Steffis Abwehrreaktion ebenso entgangen wie ihre Übelkeit. Und genauso war es mit ihrem Opa Willy, denn die Herren waren mit ihren Gedanken woanders.
Aber das war für die nachfolgenden Damen nicht im mindesten neu.
Steffi hatte lange gezögert sich aufzuraffen, um die beiden zu begleiten, nachdem Hans und Willy einen Besuch bei den Grabstellen ihrer Frauen zu Allerseelen angekündigt hatten. Steffi war nur mitgekommen, weil Emina sie flehentlich bat, nicht allein das Grab ihrer Mama zu besuchen. Sie und Steffi wussten beide erst seit Eminas unseligem Treffen mit ihrem Onkel Dawoud, dass ihre Mama nach ihrer Ermordung hier begraben lag. Klammheimlich war das vor elf Jahren deshalb passiert, um nicht die Wölfe[Fußnote 2] der ‚Gesellschaft auf ihre Spuren zu locken, wie ihr Papa erklärt hatte, der nicht ihr biologischer Vater war.
Aber die Mafia hatte sie nach ihrer Rückkehr in den Odenwald trotzdem entdeckt, und das Verwischen der Spuren und ihre Flucht in die Schweiz hatten letztlich nicht funktioniert. Das Blutvergießen um Familienehre und Rache hatte sich fortgesetzt.
Und erst jetzt, solange sie zu viert in der Stille des Waldes an den Gräbern standen, und alle ihren so unterschiedlichen Gedanken nachhingen, schien Friede in den Gedanken einzukehren.
Eine Ruhe, die trügerisch war, und die nicht lange währen sollte.
Der Covid-19-Patient
Darmstadt, Freitag 27. November 2020
Der allseits bekannte Herzbube hatte von der ganzen Aktion, mit der ein Rechtsanwaltsbüro im Auftrag der Mafiaspitze ihn dem Zugriff der Behörden entzog, kaum etwas mitbekommen.
Der Wory[Fußnote 3] lag eine Woche im künstlichen Koma, in das er Anfang Oktober versetzt worden war. Er wurde daraus zurückgeholt, nachdem sich seine Blutwerte stabilisiert hatten und seine Lunge zwar geschwächt aber selbständig arbeitete. Dieser Zustand erlaubte es den Ärzten ihn von der Intensivstation der Uni-Klinik Darmstadt, die seinen schweren Covid-Verlauf behandelt hatte, zur weiteren Erholung seiner Lungenfunktion auf die Innere Abteilung zu verlegen.
Und dann war er so mir nichts dir nichts aus dem Klinikum verschwunden. Hatte sich womöglich selbst entlassen, ohne dass jemand sagen konnte, wie es passiert war.
Die Klinik hatte umgehend die Staatsanwaltschaft verständigt, nachdem sein Verschwinden bemerkt worden war. Denn auf den Herzbuben, alias Frank Koch, wartete ein Haftbefehl wegen Vergewaltigung und schwerer Körperverletzung. Ein Delikt, das er kurz vor seiner Erkrankung mit zwei seiner Mafiakumpels beging.
Die Abholaktion aus dem Klinikum lief generalstabsmäßig und wie geplant ab, wobei Frank selbst, wie gesagt, nichts davon mitbekam.
Von gesund war er zum Zeitpunkt der Befreiung nach wie vor meilenweit entfernt, aber dem Tod war er erstmal von der virenverseuchten Schippe gesprungen.
Morgens um 5:00 Uhr unmittelbar vor Schichtwechsel des Pflegepersonals, waren an diesem tristen November Freitag urplötzlich zwei unbekannte Rettungssanitäter unter dem Kommando eines Schlipsträgers im Nadelstreifenanzug auf der Station der Uni-Klinik erschienen. Sie hatten ihn, ohne groß zu fragen, abgeholt, und in die befreundete Einrichtung zum Auskurieren zu verlegen.
Das Ganze dauerte keine zwei Minuten und war unbemerkt aber nicht undokumentiert abgelaufen, wie die später ausgewerteten Videoclips der Überwachungskamera in den Krankenhausfluren