Todgeweiht im Odenwald. Werner Kellner

Todgeweiht im Odenwald - Werner Kellner


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war ursprünglich auf REHA spezialisiert, aber jetzt erwirtschaftete die Wiederherstellungstherapie nur mehr einen unbedeutenden Anteil am Umsatz. Die ‚Gesellschaft‘ hatte mit der abseits gelegenen Klinik einen sicheren Platz für den Herzbuben ausgewählt,

      Der Spitzname war ihm geblieben, obwohl er in den kommenden Wochen seine Bedeutung verlieren würde. Er hatte eine anstrengende, von Kurzatmigkeit geprägte Zeit der Vergangenheitsbewältigung vor sich.

      Dies war seinen eingeschränkten Organfunktionen geschuldet, zu denen sich ein dramatischer Verlust an Gedächtnisleistung mit kognitiven Dysfunktionen gesellte.

      Soviel sei aber an dieser Stelle schon erwähnt, dass seine Ansichten und Vorlieben, was das weibliche Geschlecht anbelangte, von dieser tückischen Krankheit völlig umgekrempelt würden.

      Für die Mafiaführung kam es prioritär darauf an, ihn abgeschirmt von der Öffentlichkeit sicher aus der Long-Covid-Phase und dem Zugriff des Staatsanwaltes wegen einer Vergewaltigungsklage zu holen.

      Dabei war seitens der neu gewählten Anführerin der Bratwa[Fußnote 4] geplant (Nastasia Korolja hatte sich im mafiainternen Machtkampf durchgesetzt), mithilfe des gesundeten Patienten eine Ausdehnung der Klage, um weitere Klagepunkte gegen die Gesellschaft zu vermeiden.

      Für die Bande war die drohende Anklage existentiell bedrohlich, denn sie betraf nicht nur die Person des Vergewaltigers, sondern das ganze Spektrum illegaler Geschäfte, das im Zuge der Erhebungen publik würde.

      Der Kranke, der in der Gesellschaft eine führende Position bekleidete, gehörte dank seiner robusten Konstitution zur kleinen Gruppe derjenigen, die unvorhergesehen die komatöse Beatmungsphase überlebt hatten.

      Der Chef der Hibiskusklinik hatte persönlich die Überführung des immer noch von der Krankheit gezeichneten Patienten überwacht. Aber nur, weil die neue Chefin der Gesellschaft ihn partnerschaftlich bat, ihren deutschen Mafiachef aufzunehmen.

      Dr. Kurnikov war ein Chirurg, der sich in seiner ukrainischen Klinik lange, bevor er in die hessische Enklave berufen worden war, vor allem dem profitablen Leihmutterthema gewidmet hatte.

      Er war extrem besorgt, dass der seit langem unauffällig funktionierende Klinikbetrieb mit seinen diversen Aktivitäten durch diesen Patienten das Interesse der Medien und womöglich der Anklagebehörde wecken würde.

      Dieses Risiko missfiel ihm gewaltig.

      Nach dessen Gesundung würde er darauf dringen, dass die Gesellschaft ihn aus dem idyllischen Tal genauso schnell verschwinden ließ, wie er hier aufgetaucht war.

      Die Klinik selber war ein altehrwürdiges Krankenhaus, das eingebettet in eine landschaftlich bezaubernde Lage weit hinter Bad König im verträumten Ortsteil Engenthal und an einem romantischen Waldbach lag. Die Anfänge des Hauses reichten weit zurück in die Vorkriegszeit, in welcher der Verein Kinderborn gegründet wurde. Ziel dieser Organisation war die Unterstützung des Kinderreichtums von Partei-Angehörigen sowie die Betreuung hilfsbedürftiger Mütter und Kinder in vereinseigenen Heimen.

      Der Spatenstich fand in Engenthal zu Kriegsbeginn statt, nachdem die Wiesbadener Kinderborn Zuchtanstalt aus den Nähten zu platzen drohte.

      Die Gebäude wurden vor dem Kriegsende fertiggestellt, wobei das Mutter-Kind Zentrum trotzdem erst in den Nachkriegsjahren eröffnet wurde. Das Geburtenzentrum wurde in den Folgejahren weiter ausgebaut und diente von da an weniger politischen, sondern rein medizinischen Zielen. Der zweite Schwerpunkt der Klinik stürzte sich auf die lukrativen und von den Krankenkassen geförderten Kuren und REHA-Aktivitäten für die vielen psychisch und physisch Verletzten aus dem großen Krieg.

      Später waren es die Kranken der Wohlstandsgesellschaft.

      Die Klinik verfügte über einen eigenen Brunnen, der Thermal- und Heilbäder anbot, und die orthopädische Rehabilitationsversorgung wurde weiter ausgebaut.

      Um das Geschäft mit der Gesundheit auf eine breitere Basis zu stellen, spezialisierte man sich mit der Zeit auf die Symbiose von psychiatrischer Therapie und die Behandlung von Stoffwechselerkrankungen. Damit hatte sich die Klinik in der Folgezeit einen gewissen Ruf bei der Betreuung psychisch Kranker ebenso wie auf die sanfte Entwöhnung drogenabhängiger Suchtkranker erworben.

      Die Klinik umwarb Patienten mit dem Angebot einer ganzheitlichen Verarztung seelischer Störungen, ohne jemals den Beweis der Wirksamkeit anzutreten.

      Vor circa zehn Jahren wurde das Haus, infolge des massiven Verlustes an gewinnbringenden REHA-Patienten, verkauft und gelangte in neue Hände.

      Mit diesem Betreiber hatte sich die Ausrichtung der Einrichtung unbemerkt von der Öffentlichkeit langsam aber drastisch geändert. Es wurde eine chirurgische Abteilung angeflanscht, die es schaffte, bei ‚Organ-Trans‘ EU-weit registriert zu werden.

      Den neu angekommenen Long-Covid-Patienten beeindruckte das Image der Klinik wenig. Er dämmerte die folgenden Tage vor sich hin und bekam trotz kurzer Erholungsphasen, die von quälenden Rückschlägen unterbrochen wurden, von seinen Untersuchungen und Behandlungen relativ wenig mit.

      Ausgeprägt, aber mit einer deutlichen Tendenz zur Besserung, waren seine permanente Atemnot, eine tiefe Müdigkeit und jede Menge Komplikationen wegen einer eingeschränkten Nierenfunktion.

      Eine ausgeprägte Niereninsuffizienz wirkte sich auf seine Gehirntätigkeit und kognitiven Fähigkeiten aus.

      Er litt unter regelmäßig auftretenden heftigen Schmerzen.

      Seine permanenten Angstzustände wandelten sich mit der Zeit in seinem Unterbewusstsein in Hassgefühle gegen Frauen. Vor allem betroffen war die Person, die seiner Meinung nach für seinen desolaten Zustand ursächlich verantwortlich war. Und derentwegen er sich jetzt gezwungen sah, sich vor den Anklagebehörden zu verstecken.

      In seinen Träumen, wobei er in seinem akuten Dämmerzustand nicht zwischen Tag- und Nachtträumen zu unterscheiden vermochte, wechselten sich Erinnerungen an seine Gewalttaten mit zynischen Erlebnissen mit liebesuchenden Frauen ab. Aber immer wieder dominierte das angstverzerrte Gesicht seines letzten Opfers.

      Trotz seiner eingeschränkten Gedächtnisleistung, die sich kaum zu bessern schien, verlinkte er seine ganze verdammte Situation mit dieser störrischen Gutachterin der Heimaufsicht, die unverschämt genug war, ihn und seine Kumpels im Gegenzug mit Covid-19 zu infizieren.

      Sein krankhaftes Ego redete ihm ein, dass er mit seinen Mafiafreunden dieser ‚Bitch‘ einen Gefallen getan hatte. Wieso sonst hatte sie sich bei ihrem korrupten Ex, der sie als Gutachter begleitet hatte, über ihre vertrocknete Ehe ausgekotzt?

      Dieser Ex trug dem Opfer nach, dass sie ihn vor Jahren gegen einen materiell abgesicherten Stecher versetzt hatte. Und der Ex hatte einen zweiten, nicht minder triftigen Grund für die Attacke. Er musste seine Partnerin davon abhalten, seine korrupten Machenschaften auszuplaudern.

      Von Schuldgefühlen war der Herzbube indessen meilenweit entfernt. Dennoch stand er ebenfalls unter ziemlichem Druck, denn die Gesellschaft hatte ihm ein Ultimatum gesetzt. Man würde ihn gnadenlos aufgeben, wenn er nicht schnellstens, die bei der Staatsanwaltschaft anhängige Anklage, vom Tisch wischen konnte.

      Der Klinikchef war in die Pläne seiner Bosse eingeweiht und würde den Patienten nach vier bis sechs Wochen skrupellos und ohne Aufsehen entsorgen, wenn keine Besserung einträte.

      Er verursachte jetzt schon weitaus mehr Aufmerksamkeit, die er gerne vermieden hätte, und die seine profitablen Geschäfte störten.

      

       Die Erpressung

      

       Darmstadt, Montag 30. November 2020

      Die Frau, die der sich langsam ins Leben zurückkämpfende Frank Koch zu seinem Feindbild erklärt hatte, stand in-sich-gekehrt am Fenster ihres Hauses im Vorort Bessungen in Darmstadt.


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