Todgeweiht im Odenwald. Werner Kellner
„Schau dir einmal die Körperschnitte der Leichenöffnung an“.
Willy trat einen Schritt näher an die Leichen heran und staunte.
„Das habe ich ja noch nie gesehen, die haben glatt vergessen, nach der Autopsie die Schnitte wieder zuzunähen!“
„Das ist schon mehr als seltsam. “, bestätigte Willy und zog sich langsam die Handschuhe an.
„Wieso weisen nach den Totenscheinen gerade die von der Hibiskusklinik freigegeben Leichen ständig unklare Todesursache aus. Diese vielen Leichenöffnungen sind doch seltsam?“, beharrte Hubert darauf, dass dies eine Praxis war, die das Team vor allem bei den Leichenübergaben dieser einen Klinik feststellte.
Er klappte die losen Hautlappen des Bauchraumes zurück, sodass sich der senkrechte Schnitt auftat, der vom Brustbein bis zum Schambein verlief.
Eine reguläre Obduktion wurde ausschließlich bei unklarer Todesursache zu deren Feststellung vorgenommen. Dabei entnahm der Pathologe sämtliche innere Organe, wog sie und untersucht sie auf Verletzungen oder toxische Veränderungen. Hier bot sich dem Bestatter ein anderes Bild.
Es fehlten nur das Herz, die Milz und beide Nieren!
Das sah nicht nach einer Obduktion, sondern mehr wie eine Organentnahme aus.
Vermutlich sogar eine illegale Organspende, denn die Leiche war als anhanglose Sozialbestattung angemeldet, ebenso wie die beiden anderen Toten. Und wie so viele vorher, die von der Klinik kamen.
Wenn sie in der Eile nicht vergessen hätten zuzunähen, wäre niemandem etwas aufgefallen.
Unvorstellbar.
Willy, dessen Ermittlerneugier die Ehrfurcht vor Toten in seiner Rolle des Bestatters überwog, durchtrennte die Nähte, mit denen die Körperschnitte der beiden anderen Leichen vernäht waren.
Diese toten Körper waren fein säuberlich ausgenommen wie eine Weihnachtsgans, und mit Füllmaterial aus Papier gefüllt.
„Hier hat jemand ganz offenbar zufällig einen groben Fehler gemacht oder die Arbeit wurde unterbrochen. Vielleicht war da jemand zu schnell?“, sagte er, stapfte in den ersten Stock und rief in der Klinik an.
Die Auskunft, die er erhielt, war nicht dazu angetan, sein Misstrauen aus der Welt zu schaffen. Der Pathologe, den er am Telefon hatte, entschuldigte sich mit Überarbeitung, und dass er die Obduktion wegen eines Notfalles leider unterbrochen hätte. Inzwischen wäre es dann offensichtlich zum Fehler gekommen. Ob ein Azubi danach und unbefugt den toten Körper zum Transport hergerichtet und Willys Bestattergehilfen zusammen mit den beiden anderen Leichen mitgegeben hatte, ließ sich nicht mehr nachvollziehen. Er bedauerte den Zwischenfall und legte auf.
Kopfschüttelnd beschloss Willy, seinen Freund und Exkollegen, den Hauptkommissar Manfred Dingeldein, anzurufen und seinen Rat einzuholen.
„Guude Morsche, Manfred, gut dass ich erwische. Ich hab da etwas für dich“, und dann erzählt Willy, was er herausgefunden hat.
Der HK zögerte wegen einer seiner Meinung nach ungenügender Indizienbeweislage, aber er rief aus Gefälligkeit dennoch bei der Staatsanwaltschaft an. Um zu klären, ob der Verdacht ausreichte, die Leiche in die Rechtsmedizin nach Frankfurt zu einer Obduktion zu bringen, die den Namen verdiente.
Der Staatsanwalt stimmte dem Antrag, in Kenntnis des coronabedingten Bearbeitungstaus am gerichtsmedizinischen Institut, erwartungsgemäß nicht zu.
Und Willy löste die Feuerbestattung dementsprechend und umgehend aus.
Umzugspläne
Pflegeheim Jungbrunnen, Mittwoch, 9.12.2020
Der morgendliche Inspektionsrundgang durch das Seniorenheim gehörte zu Marias Routineübungen. Sie war eine Stunde später wieder an ihren Schreibtisch zurückgekehrt und blätterte lustlos in den Abrechnungen, die sie noch erledigen musste. Die Ausgangsablage war voll mit Briefen, die auf ihre Unterschrift warteten, bevor sie zum Monatsende an die Krankenkassen der Heiminsassen verschickt wurden.
Sie hob den Kopf und reagierte überrascht auf das Klopfen an der Tür.
Auf Marias lautes „herein“, steckte eine gutgelaunte Steffi Schwaiger, ihren Wuschelkopf durch den Türspalt, und fragte, ob sie stören würde.
Maria war ehrlich froh über die angenehme Unterbrechung und die Aussicht auf eine geduldige Zuhörerin zu ihrem Problemchen.
Sie winkte sie erleichtert herein.
Bei ihrem letzten Telefonat hatte sie Steffi direkt gefragt, ob sie sich von ihr einmal vollquatschen ließe, wie sie sich ausdrückte. Und Steffi hatte gerne zugestimmt, denn das Schicksal der einige Jahre jüngeren Kollegin lag ihr auf der Seele.
Steffi kam mit dem Besuch im Pflegeheim formal ihrem Auftrag einer zuständigen Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes nach. Ihr Prüfauftrag lautete, alle vier Wochen die Einhaltung von Gesundheitsstandards und der Coronamaßnahmen prüfen, die unter Marias Vorgängerin komplett vernachlässigt worden waren. Und da ließen sich leicht ein paar Minuten zum Plaudern dranhängen.
Maria bat sie erleichtert, Platz zu nehmen.
Steffi saß noch nicht, da sprudelte Maria schon ihre Sorgen heraus.
„Du kannst dir nicht vorstellen, was bei mir zu Hause in den letzten Wochen abgegangen ist“, leitete sie das Gespräch ein und wiederholte, was sie Steffi bei ihrem letzten Telefonat schon gedrückt hatte.
Steffi verfügte von Haus aus über die seltene Fähigkeit des empathischen Zuhörens. Es passierte ganz oft, dass ihr völlig Unbekannte bedenkenlos intimste Details anvertrauten. Sie hatte diese unsichtbare Markierung der anteilnehmenden Zuhörerin auf die Stirn tätowiert.
Und Maria las dieses Zeichen spontan und legte sofort los, indem sie haarklein über ihre Schwangerschaft und den Konflikt mit ihrer Familie erzählt.
„Oh mein Gott, ich stelle mir das schrecklich vor, von irgendeinem Arschloch vergewaltigt UND geschwängert zu werden? Wie krank ist das denn?“, stöhnte Steffi, und sie verstand, dass das Drama, um die frühere Vergewaltigung um eine Eskalationsstufe höher geklettert war.
Nicht dass eine Schwangerschaft per se etwas Schreckliches in Steffis Vorstellungswelt wäre, wenn sie an ihren eigenen positiven Schwangerschaftstest dachte, den sie auf der Toilette zu Hause erfreut zur Kenntnis genommen hatte. Steffi war erleichtert und zufrieden über ihr eigenes Testergebnis, weil sich erstens ihr ständiger morgendlicher Brechreiz auf eine natürliche Ursache zurückführen ließ. Und zweitens freute sie sich, denn sie liebte den Samenspender.
Bei Maria sah das etwas anders aus. Es war schon krass, wie sich eine Spermienspende so konträr in ihren Konsequenzen entwickelte.
Maria, die von Steffis Gedanken nichts bekommen hatte, fuhr traurig fort.
„Mit meiner Mama komme ich gar nicht mehr klar. Die liegt mir ständig mit ihrem Gesäusel wegen des Verlustes unserer Familienehre und der Schande, die ich über sie bringe, in den Ohren. Und es wird nicht weniger, sondern sie und Papa steigern sich da sowas von in eine Familienkatastrophe hinein“, jammerte Maria und Steffi war baff.
„Familienehre, wenn ich das schon höre. Das ist ja mindestens genauso schlimm wie das Drama, das Emina durchmachen musste, und das letztlich zum Tod ihrer Mutter und ihres Onkels führte. Und das im einundzwanzigsten Jahrhundert. Unfassbar!“, erklärte sie sich mit Marias Bericht solidarisch, „dass es so eine archaische Einstellung bis heute bei uns überlebt hat?“
„Und Karsten ist um keinen Deut besser“, blieb Maria beim Thema und war den Tränen nahe, „der droht sogar damit, mir Julia wegzunehmen, wenn ich nicht endlich abtreibe und dieser Erpressung nachgebe“.
Damit schaffte sie den Übergang zu den diversen SMSen, die sie leider (aus Sicht