Kullmann und das Lehrersterben. Elke Schwab

Kullmann und das Lehrersterben - Elke Schwab


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      Nachdem sich Bernhard eingeloggt hatte, konnten sie sich die vielen Videos ansehen, die inzwischen eingestellt worden waren.

      »Meine Güte! Im Internet sind die Kids fleißig«, stöhnte Erik, als er die Auswahl sah. Aber das Video war immer das gleiche. Der Lehrer wurde von allen Seiten gezeigt und dazu die aufgeregten Schüler und Lehrer und der Tumult, der um den Erhängten entstanden war. Jüngere Schüler rannten weinend davon, Ältere profilierten sich mit coolen Sprüchen, die alle auf den Videos zu verstehen waren. Ein junger Mann versuchte, den Knoten zu öffnen, der den Erhängten in unerreichbarer Höhe hielt, während ein Lehrer mit Glatze ihn daran hinderte.

      Und dann kam sie.

      Groß, schön, schwarzhaarig, mit frechem Blick und ein Handy in der Hand, mit dem sie offensichtlich filmte.

      Erik zuckte zusammen, als er das sah.

      »Scheiße«, fluchte er. »Als ich mit Mirna zusammengestoßen bin, hat sie schon mehr gewusst als ich.«

      »Zusammengestoßen?« Bernhard grinste anzüglich. »Mit der würde ich auch gern mal zusammenstoßen.«

      »Nicht so!« Erik berichtete ihm von der ersten Begegnung mit Mirna. »Und jetzt soll ich ausgerechnet diese Frau aufspüren und feststellen, ob sie mehr über das Verbrechen weiß.«

      »Ein gefährlicher Auftrag.« Bernhard pfiff durch die Zähne und schaute wieder auf den Bildschirm. »Ich weiß zufällig, dass die Wach- und Schließgesellschaft in Saarbrücken noch Leute sucht.«

      »Sehr tröstlich«, murrte Erik.

      Es war deutlich zu sehen, wie Mirna selbst einen Film von dem erhängten Lehrer machte. Dabei schwenkte sie zu den Schülern, die gegen den kahlköpfigen Lehrer ankämpften. Darunter erkannte Erik seinen Nachbarn Yannik Hoffmann.

      »Naja«, lenkte Bernhard ein. »Schnur hat dir nicht umsonst diese Andrea als Begleitschutz zugeteilt. Du solltest schlauer sein als ich und sie mitnehmen, wenn du zu dieser Mirna fährst. Ich dachte damals, ich könnte es allein mit drei Frauen von dem Kaliber aufnehmen. Wo es mich hingeführt hat, siehst du ja.«

      Kapitel 13

      Mathilde Graufuchs! Sie hatte sich nicht verändert. Seit dreißig Jahren sah sie schon so alt und verbittert aus.

      Fred Recktenwald bekam die Erinnerung an seine Begegnung mit dieser Frau nicht aus dem Kopf. Dreißig lange Jahre hatte er nichts von ihr gehört oder gesehen. Dann tauchte sie plötzlich mit einer Schulklasse auf der Teufelsburg auf. Dazu noch an einem Tag, an dem alle Schüler des Max-Planck-Gymnasiums frei haben sollten.

      Aber nein! Der alten Hexe war es wieder einmal gelungen, Kinder um ihr Vergnügen zu bringen. Irgendwie hatte sie es geschafft, die Schüler von dem toten Lehrer fernzuhalten und sie in den Schulbus zu locken, bevor die Kleinen erfahren konnten, dass an diesem Tag eigentlich schulfrei war. Typisch.

      Aber warum regte er sich auf?

      Sie hatte ihn nicht erkannt – hatte ihn einfach aus dem Gedächtnis gestrichen, wie damals, als es um seine Versetzung ging. Es wäre ein leichtes für sie gewesen, Fred Recktenwald zum Abschluss der Mittleren Reife zu verhelfen. Nur einige Nachhilfestunden. Aber Mathilde Graufuchs hatte ihn ausgelacht und gemeint, mit ihm wolle sie nicht ihre Zeit verplempern. Fred Recktenwald sollte jeder schleunigst aus dem Gedächtnis streichen. Das waren ihre Worte gewesen.

      Und so hatte er das Gymnasium ohne Abschluss verlassen.

      Mathilde Graufuchs hatte sich schon immer für etwas Besseres gehalten. Vor allen Dingen damals, als Fred Recktenwald ihr Schüler war und wieder einmal etwas nicht wusste.

      Nur an diesem Tag nicht.

      Mit überzeugender Selbstsicherheit trug Fred Recktenwald sein Wissen vor: »Die Teufelsburg wurde als Kampfburg zur Verteidigung gebaut. Hier seht ihr einen Turm, der nach Westen zeigt. Demnach wurde dieser Turm auch Westturm genannt. Er wurde mit einer Schleuderschießscharte ausgestattet, eine damals sehr wirksame Waffe, um den Feind von der Burg fernzuhalten.« Staunen ging durch die Menge der Schüler. »Auffallend ist, dass dieser Turm schon im Fundament keine Mauern aufzeigt. Es wird vermutet, dass durch den Bau der Verbindungsstraße der größte Teil des Turms vernichtet worden ist, was bedeutet, dass diese Verbindungsstraße später gebaut worden ist.« Fred empfand sich selbst als sehr professionell, während er all seine Kenntnisse vortrug. Und die Schüler zollten ihm gebührenden Respekt, was ihm guttat, während Mathilde Graufuchs neben ihm kochte vor Wut.

      »Was ist eine Verbindungsstraße?«, fragte ein Junge.

      »Diese Verbindungsstraße sollte damals die beiden Burgteile sowie die verlängerte Talzufahrt innerhalb des Burggeländes miteinander verbinden.«

      »Heißt das, dass diese Verbindungsstraße nicht aus der Burg herausführte?«

      »Genau das.«

      »Woran kann man das feststellen?«

      »Ganz einfach: Diese Straße hat keine Wehr- und Abwehranlagen, um das Burggelände vor Eindringlingen zu schützen. Sie ist also ungeschützt. Weiterhin passiert die Verbindungsstraße die Zisterne, die wohl kaum außerhalb des Burggeländes gelegen haben kann, weil das die zentrale Wasserversorgung für alle auf der Burg lebenden Menschen war. Hinzu kommt, dass der Wehrturm eine direkte Verbindung zu dieser Straße hat, was nicht möglich wäre, würde diese Straße nach draußen führen.«

      Keine Antwort war er den Kindern schuldig geblieben. Und doch hatte Fred Recktenwald gespürt, wie Mathilde Graufuchs ihn beobachtet – ja belauert hatte. Ständig war sie auf der Suche nach etwas, um ihn zu kompromittieren. Wenn sie nichts fand, erfand sie einfach etwas, womit sie ihn bei seinem Vortrag pausenlos unterbrach. Sogar die Geschichte der Teufelsburg wollte sie besser kennen als er.

      Aber das würde er niemals zulassen. Zu sicher war er sich inzwischen, dass er es besser wusste, weil er alles auswendig gelernt hatte.

      Er hatte ihr widersprochen, was ihm vor dreißig Jahren im Gymnasium nicht eingefallen wäre. Vielleicht hatte sie ihn deshalb nicht erkannt.

      Oder hatte ihre Methode, ihn aus dem Gedächtnis zu streichen, tatsächlich funktioniert?

      Seine Füße trugen ihn beschwingt nach Hause. Es war ein guter Tag. Erst der Deutschlehrer mit heruntergelassener Hose. Dann die Geschichts­lehrerin mit vor Staunen offenstehendem Mund. Diese Bilder wollte Fred im Gedächtnis behalten.

      Er passierte Picards Neubeugebiete in der Gisinger Straße und Auf der Kleinwies, bis er von der Rückseite an sein Grundstück gelangte. Undurchdringliche Hecken rahmten sein Haus ein, so dass es auch von dieser Seite nicht zu sehen war. Nur er wusste, wo er zwischen den dornigen Ästen hindurchschlüpfen musste, um sein Haus zu erreichen. Wie ein Dieb sicherte er sich ab, dass ihn niemand beobachtete. Erst dann verschwand er blitzschnell im grünen Dickicht. Es machte ihm jedes Mal kindlichen Spaß, sein Eigenheim über diesen Weg zu betreten. Er liebte es, unerkannt zu leben. Und dieses alte Haus, das er von der Stadt Saarlouis für einen geringen Preis gemietet hatte, bot sich geradezu dafür an. Niemand kümmerte sich um diese Ruine, weil vermutlich niemand im Dorf wusste, dass sie noch existierte.

      In Picard aufgewachsen, wusste er genau, wie neugierig die Leute sein konnten. Deshalb war ihm jedes Mittel recht, so unerkannt wie möglich dort zu leben. Und wo ging das besser als in diesem versteckten Häuschen, das sogar die Stadt Saarlouis vergessen hätte, wäre er nicht auf sie zugegangen, um es für wenig Geld zu mieten. Als Kind war er oft zusammen mit Linus Kalkbrenner zu dem verlassenen Haus gegangen. Sie hatten es das Hexenhaus genannt und sich stets davon magisch angezogen gefühlt. Und diese Anziehungskraft übte das Haus heute noch aus. Fred konnte sich das nicht erklären. Aber das störte ihn nicht. Er schätzte sich einfach nur glücklich, heute in diesem Haus wohnen zu können.

      Er stieg die wenigen Stufen zu seiner Veranda hoch, die notdürftig


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