Mythos, Pathos und Ethos. Thomas Häring
erreicht gehabt. Es war ein langer Wahlabend in Kiel gewesen und es hatte lange Zeit so ausgesehen gehabt, als würde es für CDU und FDP reichen, doch wer mit Carstensen als Regierungschef eingeschlafen war, erwachte am nächsten Morgen mit Heike Bisonis als Ministerpräsidentin. Auf dem Land war Schwarz-Gelb klar bevorzugt worden, doch in den Städten hatte Rot-Grün die Nase vorn. So hing also alles vom kleinen SSW ab, der politisch wesentlich näher bei Rot-Grün stand und deshalb das Bündnis mit jenen beiden Parteien wagen wollte.
In Berlin freute sich CDU-Chefin Gerkel über einen gefühlten Wahlsieg, sie verspürte Rückenwind für sich und ihre Partei, doch auch die anderen Parteien waren nicht gerade unzufrieden, von der FDP mal abgesehen. Die SPD hatte weitaus Schlimmeres befürchtet gehabt, schließlich gab es in Deutschland aufgrund der neuen Zählweise plötzlich über fünf Millionen Arbeitslose und das war natürlich ein Pfund, mit dem man nur sehr schwer wuchern konnte. Hinzu kam die Visa-Affäre, welche vor allem die Grünen mit ihrem Außenminister Mischer sehr beschäftigte und auch nicht gerade zur Mobilisierung der eigenen Klientel beigetragen hatte. Alles in allem war das ganze Spiel irgendwie Unentschieden ausgegangen, wenngleich sich Heike Bisonis an ihren Stuhl klammerte, denn Macht macht süchtig.
Mitte März 2005: Erst gab es eine Regierungserklärung des Bundeskanzlers, dann ein Gipfeltreffen mit den Spitzen der Union, doch zur selben Zeit fand in Kiel ein Drama statt, das seinesgleichen suchte. Schräder versprach Steuersenkungen für Unternehmen, wollte den Mittelstand entlasten und war auf das Gesprächsangebot der Oppositionsführer eingegangen, Deutschland mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung weiterzuhelfen. Es ging also schon alles in Richtung Große Koalition, was nicht weiter verwunderte, denn die Grünen waren mit sich selbst, also der Visa-Affäre, beschäftigt und im Bundesrat hatten ohnehin CDU/CSU das Sagen. Von daher machte es durchaus Sinn, sich zum "Job-Gipfel" zu treffen.
Derweil nahm die Katastrophe in Schleswig-Holstein ihren Lauf. Heike Bisonis und Peer Larry Garstensen hatten sich als zu wählende Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten aufstellen lassen. 35 Stimmen waren im ersten Wahlgang erforderlich, das Duell endete 34 zu 33 für Bisonis. In den drei weiteren Wahlgängen endete das Duell der Beiden jeweils 34:34, wobei sowohl Bisonis als auch Garstensen im dritten und vierten Wahlgang die einfache Mehrheit der Stimmen, also bereits ein 34:33 gereicht hätte. Danach war Schluß mit lustig, die CDU-Vertreter freuten sich ausgelassen und bei der gescheiterten "Dänen-Ampel" herrschte Grabesstimmung. Damit war "Pattex-Heike", wie sie fortan in den Medien genannt werden sollte, weg vom Fenster, was viele Außenstehende durchaus mit Schadenfreude bedachten, denn letzten Endes hatte sie sich genauso an ihren Stuhl und die damit verbundene Macht geklammert wie die Herren Wiedenkopf und Träufel, für die sie immer nur Spott übrig gehabt hatte. Trotz allem trieb die Möchtegernkoalitionäre fortan die Frage um: Wer hat uns verraten? Für die Grünen sowie den SSW stand die Antwort recht schnell fest: Sozialdemokraten. Zumindest eine oder einer von denen. Es wurde viel spekuliert, doch man kann ziemlich sicher davon ausgehen, daß das Ganze von der CDU eingefädelt worden war. Sie hatte vermutlich einen SPD-Abgeordneten, welcher Bisonis eher nicht wohlwollend gegenüberstand, bestochen und sich damit die Gewißheit gesichert, daß es höchstwahrscheinlich eine Große Koalition unter der Führung von Garstensen geben würde. Allein die Tatsache, daß die erste Abstimmung 34:33 für Bisonis endete, läßt eindeutig darauf schließen, daß das so abgemacht war, um die Ministerpräsidentin in die Falle laufen zu lassen. Schließlich konnte sie ja darauf hoffen, im dritten oder vierten Wahlgang mit 34:33 die Abstimmung zu gewinnen und so im Amt zu bleiben. Dabei hatte einer aus der CDU oder der FDP nur im ersten Wahlgang absichtlich nicht für Garstensen gestimmt, damit die Anderen glaubten, sie hätten noch eine Chance. Die CDU hatte Bisonis blamieren wollen und das war ihr gelungen. Wie viel sie dafür bezahlt hat, wird vielleicht irgendwann mal rauskommen, aber da solche Geschichten im politischen Geschäft leider an der Tagesordnung waren, man erinnere sich nur an das Geschmiere 1972, sollte man es auch nicht zu hoch hängen.
18.03.2004: "Heike Bisonis gibt auf", lautete die Schlagzeile der SZ. Was blieb ihr auch Anderes übrig? Schließlich wußte sie nun, daß es da eine Person gab, welche ihre Macht genutzt hatte, um sie als Ministerpräsidentin zu verhindern, von daher gab es nur noch die Möglichkeit des Rückzugs. Wir aber hören uns derweil ein Gespräch von Bundeskanzler Schräder und Außenminister Mischer an. "Hast Du gesehen, wie interessiert sich die Gerkel in meinem Büro umgeschaut hat? Die glaubt wohl, daß sie dort schon bald sitzen wird", erwähnte Bernd. "Na ja, immer noch besser als der Sträuber. Aber sag mal, Bernd, was habt Ihr Euch denn da in Schleswig-Holstein geleistet? Also das geht ja nun mal gar nicht", kritisierte Mischer. "Hör mir bloß mit den Pappnasen dort oben auf! Die sind so was von unfähig, das hält man doch im Kopf nicht aus. Wenn ich daran denke, wie oft es uns hier gelungen ist, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, obwohl wir auch mehr als wackelige Mehrheiten hatten, dann merkt man sofort, was das dort oben für Amateure sind." "Oder eben Profis. Die Sache stinkt gewaltig und ich glaube, genauso wie Euer Finanzminister Gegner, daß dort bestochen worden ist." "Und wenn schon? Was wäre das für ein ehrloser Sozialdemokrat, der sich von den Schwarzen schmieren ließe?" "Vielleicht einer, der noch eine Rechnung mit der Heike offen hatte." "Kann schon sein, ich fand sie ja auch manchmal ziemlich anstrengend, aber so einen Abgang hat sie wirklich nicht verdient. Was ist jetzt mit Eurer Visa-Geschichte?" "Na ja, die Aufregung wird sich hoffentlich legen." "Das möchte ich auch ganz stark hoffen, denn wenn wir die Wahlen in NRW verlieren, dann ist Schicht im Schacht." "Wie meinst Du das, Bernd? "Ja glaubst Du etwa, daß ich und der Mütze dann noch den Laden hier zusammenhalten können?" "Aber wenn Ihr in Schleswig-Holstein mit der CDU eine Große Koalition macht, dann kann doch Schwarz-Gelb in NRW gewinnen und hat trotzdem keine Zweidrittelmehrheit im Bundesrat." "Mag sein, aber wenn uns unser Stammland flöten geht, dann wird es ungemütlich im Bundestag, denn dann tanzen unsere linken Mäuse wieder auf dem Tisch und fordern mehr sozialdemokratisches Programm oder solche Scherze." "Ach du Schande, das würde uns ja gerade noch fehlen." "Allerdings. Deshalb sieh zu, daß diese Visa-Sache endlich in Ordnung kommt!"
11.04.2005: "Wahlkampfendspurt in Nordrhein-Westfalen: Verzagte Rote, euphorische Schwarze", hieß es sechs Wochen vor den Landtagswahlen in NRW in der Süddeutschen Zeitung. Die Meinungsumfragen waren mehr als deutlich: Schwarz-Gelb lag überaus komfortabel vor Rot-Grün und im Grunde wußten alle, was die Stunde geschlagen hatte. Ministerpräsident Seinglück von der SPD versuchte zwar noch, in die Offensive zu kommen, indem er bemerkte, er könne sich auch andere Regierungspartner als die Grünen vorstellen, doch erstens wußte man das schon von ihm und zweitens würde er mit jener Aussage das Ruder auch nicht mehr herumreißen können. Alle warteten gebannt und gespannt auf den 22.Mai, an dem die für den Bund vorentscheidende Wahl stattfinden sollte. Noch einmal hatten alle Parteien sämtliche Register gezogen gehabt und alles an Bundesprominenz aufgeboten, was sie in ihren Reihen vorzuweisen hatten. Doch nicht einmal das Staraufgebot der SPD konnte die enttäuschten Wähler der Sozialdemokraten mobilisieren, ganz im Gegenteil. Nachdem sie sich Schräder und Seinglück angehört hatten, gingen die meisten Anhänger nach Hause, obwohl doch auch noch Parteichef Mützewirsing sprechen sollte. Würde es nach fast vier Jahrzehnten SPD-Herrschaft im bevölkerungsreichsten Bundesland einen Regierungswechsel geben oder gab es für die vermeintlichen Verlierer noch Hoffnung auf ein Wunder?
Mitte April 2005: "Frust über Dan" in der SPD. Nach einem Jahr an der Spitze der Partei war die Euphorie längst gewichen. Zum Einen hatte auch "Mütze" den Absturz der SPD in der Wählergunst nicht aufhalten können und zum Anderen hatte er sich mit einigen autistisch anmutenden Entscheidungen, welche die Fraktion dann nur noch abnicken sollte, bei den eigenen Leuten unbeliebt gemacht. Nun stand die Ernennung des neuen Wehrbeauftragten an und in der SPD fürchtete man einen Denkzettel für den Dan, denn dafür war die Kanzlermehrheit nötig und das Gegrummel in der Partei war schon deutlich vernehmbar. Man wollte schließlich mitbestimmen und mitreden, nicht nur als Stimmvieh ge- und mißbraucht werden, sonst hätte man ja gleich in die CDU oder in die CSU eintreten können. Wenn man sich all das vor Augen führte, dann wurde einem vielleicht klar, warum Mützewirsing ausgerechnet jetzt einen Nebenkriegsschauplatz eröffnete, mit dem er die eigenen Reihen zu schließen versuchte. Die "Heuschrecken-Debatte" war geboren, "Mütze" kritisierte global operierende Unternehmen, welche in Deutschland Leute beschäftigten und fette Gewinne machten, allerdings keine Steuern zahlten und so wie Heuschrecken über den Planeten zogen, Menschen sowie Maschinen ausbeuteten, aber keinen