was Leiden schafft. Hermann Brünjes
vermute, sie werden den ganzen Krater leerräumen und dann alles wieder auffüllen. Heutzutage wird alte Munition nicht mehr einfach irgendwo verbuddelt.“
„Und du gehst mit mir jetzt hier entlang, um das zu sehen?“
„Auch. Aber nicht nur.“
„Nicht ‚nur‘ bedeutet, du willst ab hier nun endlich unsere Zweisamkeit genießen?“
„Auch.“
Maren boxt mich in die Seite. „Ich habe es mir gedacht! Du willst auch noch einen Blick auf die Fischteiche werfen!“
Ertappt. Statt rechts in die Wiesen und zur Brücke über den Mühlbach abzubiegen, gehen wir noch ein Stück geradeaus. Diesen Weg nennen die Einheimischen „Froschweg“.
Links liegt der riesige Acker, rechts Büsche, dahinter sumpfige Wiesen. Zwei kleine Weiden mit Ställen für Ponys, ein weißer, schäbiger Wassertank, Erlen- und Weidengestrüpp. Der zu Beginn asphaltierte und dann sandige Weg wird matschiger. Rechts wachsen dichte Buschrosen. Wie alles andere, sind sie jetzt kahl und braun. Der Weg wird zum Hohlweg. Rechts stehen nun Tannen und ein breites Tor aus rostigem Metall dazwischen. Man kann wegen der dichten Nadeln nicht genau sehen, was dahinter ist. Es scheint eine Hütte oder ein Wochenendhaus zu sein. Dass hier jemand ein und ausfährt, sieht man an Reifenspuren im feuchten Boden. Sie könnten von einem Quad stammen.
„Komm, lass uns noch ein kleines Stück weitergehen.“
Ich ziehe Maren am Ärmel. Sie lacht.
„Kein Problem – obwohl wir hier schon oft gewesen sind!“
Das weiß ich natürlich. Intensiv angeschaut habe ich es mir aber bisher nicht. Wir gehen jetzt durch einen Hohlweg. Zu beiden Seiten gibt es unzählige Haselnusssträucher, zum Teil riesig. Ihre geraden Triebe erinnern mich an meine Jugend. Dies hier ist ein wahres Paradies für Jungen, die ihre Flitzebögen selber bauen! Links geht es steil hinauf. Man kann den Acker oben wegen der Böschung, Büschen und Bäumen nur erahnen. Rechts geht es hinab. Zwischen Büschen und Erlen zieht sich ein Graben am Weg entlang, davor ein Zaun aus krummen Drähten.
Hinter all dem liegen mehrere Teiche. Man sieht sie jetzt durch winterlich kahles Geäst, im Sommer ist der Blick versperrt. Ich zähle drei größere und zwei kleinere Wasserflächen, dazwischen Dämme.
„Und du meinst, hier haben die Jungen vom Krater gespielt? Ehrlich: Das kann ich sehr mir gut vorstellen!“
„Ich auch, Maren. Hab‘ dir ja von meiner Pfadfinderzeit erzählt. Dies wäre für uns damals ein Traum gewesen! Gebüsch, Wasser, Wald, Hütte, Fische … ein Paradies!“
„Aber im Moment ist niemand hier.“
„So scheint es. Wollen wir mal versuchen, zur Hütte zu kommen. Vielleicht ist das Tor ja nicht abgeschlossen.“
Maren ist strikt dagegen. Ich verzichte darauf, mit ihr über Hausfriedensbruch und „du willst auch nicht, dass jemand auf unserem Grundstück herumschnüffelt“ zu diskutieren. Außerdem gehe ich davon aus, dass ich mir die Sache hier spätestens am Wochenende mal genauer ansehen werde.
„Komm, lass uns umdrehen. Es beginnt wieder zu nieseln.“ Sie zieht sich ihren Regenmantel über den Kopf und hakt sich bei mir ein. „Wir sind nun doch länger unterwegs als ich dachten. Ich will zuhause noch etwas schaffen und du musst vielleicht ja auch nochmal an den Schreibtisch.“
Da hat sie recht. Ich habe manches zu notieren und im Internet zu recherchieren.
Wir nehmen den Weg über die Holzbrücke. Selbst bei trübem Wetter begeistere ich mich am Ausblick von hier aus. Wenn man auf der Brücke steht, unter sich das plätschernde Wasser des Mühlbaches, schaut man westlich in eine graue Naturlandschaft. Die sumpfige Wiese ist mit schwarzen Binsengräsern bedeckt. „Lugbulten“ nannten wir sie als Kinder. In meiner Heimat haben junge Landwirte spaßeshalber einen „LugbultenKulturverein“ gegründet. Dabei waren gerade diese Binsen ihre erklärten Feinde, da sie das Weideland fürs Vieh zerstörten.
Weiter hinten ragen unsere zwanzig Windräder in den Himmel. Jetzt, in Dunst und Regen, sieht man die über 200 Meter hohen Anlagen nur teilweise und ab und zu einen der riesigen Flügel.
Der Blick zur anderen Seite, nach Osten, wird erst richtig schön, als wir den Pfad quer über die Wiese gehen. Die Kirche mit ihrem hohen Turm, davor die uralte, knorrige Dorfeiche und weiter vorn ein paar Gebäude, Weiden, Wiesen …
Himmelstal ist wirklich ein schönes Dorf und selbst im trüben Winter noch attraktiv. Na ja – wenn nur der Schweinestall, an dem wir vorbeikommen, nicht so stinken würde, die Pferdehalter und Landwirte ihre Höfe besser aufräumten, die grässliche Schutthalde der vor Jahren abgebrannten Scheune endlich verschwinden würde und der grüne Lastwagen nicht schon wieder direkt vor der Kirche abgestellt wäre …
Als wir in unsere Straße einbiegen wollen, kommt uns Enno mit Hund entgegen.
„Hallo Jens, hallo Maren! Auch mal an die frische Luft?“
„Klar. Wer, wie du, einen Hund hat, muss sich um ausreichend frische Luft ja nicht mehr sorgen.“
Er lacht. „Genau! Schaff dir einen Hund an und du beginnst eine Langzeit-Sauerstofftherapie!“
„Apropos Sauerstoff. Habt ihr gestern noch lange am Krater zugebracht?“
Maren wirft mir einen kritischen Blick zu. Sie hat offenbar keine Lust, nun über den Brand zu reden. Enno umso mehr.
„Bis es dunkel wurde. Wir haben den Krater gewissermaßen geflutet. Allerdings ist der Boden dort extrem porös und unser Löschwasser ist sofort versickert.“
„Ich gehe schon mal …“ Maren löst sich von meinem Arm. „Ihr könnt euch dann ja noch ein bisschen unterhalten.“
Sie geht das kurze Stück zu ihrem Haus. Mich allerdings interessiert, was Enno weiter zu berichten hat. Zwar haben wir gestern noch wegen der Zahlen telefoniert, aber mich interessieren inzwischen andere Dinge.
„Gab es noch weitere Explosionen?“
„Nee. Der von uns hinzugerufene Kampfmittel-Experte meinte, es seien wohl Handgranaten gewesen, die explodiert sind. So etwas habe ich in 42 Jahren aktivem Dienst bei der Freiwilligen Feuerwehr noch nicht erlebt. Wie gut, dass keinem der Jungs was Ernsthaftes passiert ist.“
Ich muss jetzt nicht widersprechen. Er redet auch schon weiter. „Jedenfalls sind die Fachleute aus Munster auch heute noch dort. Es scheint, in dieser Kuhle lagen diverse alte Granaten und Blindgänger. Das muss jetzt ausgiebig untersucht werden.“
„Hast du `ne Ahnung, wie die dorthin gekommen sind?“
„Nee. Früher war die Senke eine Kippe für Biomüll. Der Friedhof hat dort seinen Gras- und Baumschnitt entsorgt.“
Und Grabsteine samt Skulpturen, denke ich. Er scheint davon aber nichts zu wissen. Ich vermute, er kann mir doch nichts Neues mehr sagen, aber doch weiterhelfen.
„Enno, mal was ganz anderes, unabhängig von gestern. Du kennst doch alle hier in Himmelstal. Maren und ich waren eben im Froschweg. Da gibt es ja auf der rechten Seite diese Fischteiche. Ich glaube, dort steht auch ein Gartenhaus oder sowas. Weißt du, wem das alles dort gehört?“
„Nicht genau. Früher war das eine Art Refugium vom alten Gutsherrn Clemens von Bering. Aber der hat es vor zwei Jahren verkauft. Er wollte, dass jemand die Fischteiche wieder bewirtschaftet und hat wohl auch jemanden gefunden.“
„Weißt du wen?“
„Ich kenne ihn noch nicht. Wegen Corona gab es ja weder Osterfeuer, Weinfest noch sonst etwas, wo man sich hätte treffen können. In der Feuerwehr ist der neue Besitzer nicht, auch nicht beim Fußball. Ich glaube, er heißt Malik. Ich weiß aber nicht, ob das sein Vor- oder Nachname ist.“
„Und er ist nicht von hier?“
„Nicht aus Himmelstal oder aus einem der umliegenden Dörfer.