was Leiden schafft. Hermann Brünjes
„Hat er. Er beliefert sogar den Fischwagen vom Wochenmarkt gelegentlich mit frischen Forellen. Hat die Marktverkäuferin jedenfalls meiner Frau erzählt.“
„Und weißt du etwas davon, ob sich bei ihm Pfadfinder und Jugendliche treffen?“
„Stimmt. Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich glaube sogar, deine Nachbarn haben mal erzählt, Dennis geht manchmal dorthin. Wieso fragst du das alles? Ist da was faul?“
Ich beschwichtige ihn.
„Nein, nein, wir haben eben nur dieses traumhafte Teichgelände gesehen. Da wollte ich mich mal danach erkundigen. Wäre doch ein schönes Wochenenddomizil dort.“
Er lacht und versucht seinen Hund zu bremsen, der ganz offensichtlich keine Lust mehr auf Gerede hat und weiter will.
„Da kommst du nun leider zwei Jahre zu spät.“
Donnerstag, 3. März
Den Vormittag verbringe ich am Schreibtisch in meinem Kellerbüro. Elske hat mir diverse Unterlagen aus ihrer Recherche per E-Mail geschickt. Gegen zehn Uhr ruft sie mich an.
„Moin Jens. Hast du alles gelesen?“
„Elske, ich habe auch noch was anderes zu tun!“
„Ich weiß. Zeitunglesen, Frühstücken, Facebook …“
„Nee, ich habe schon gearbeitet.“
„Was denn? Wir sollten nicht doppelt recherchieren.“
„Was steht denn in deinen Berichten?“
Ehrlich gesagt habe ich mehr Lust, es von Elske direkt zu hören, als seitenweise ihre Berichte zu lesen.
„Okay, dann fange ich mal an. Du könntest parallel meine Mail-Anhänge öffnen. Ich habe zuerst mal nachgeschaut, ob es vergleichbare Vorfälle mit Granaten gibt und wie es überhaupt um Munitionsfunde steht.“
„Und? Ich ahne Schlimmes.“
„Mit gutem Recht und noch viel zu harmlos ausgedrückt. Ich war entsetzt. Je mehr ich nachforschte, desto mehr habe ich den Eindruck, wir leben allesamt auf einer Munitionsdeponie.“
„Mit allesamt meinst du uns hier in der Heide?“
„Ja, hier besonders. Aber längst nicht nur bei uns. Hast du schon mal von den ‚Dethlinger Teichen‘ gehört?“
„Mir ist der Name begegnet, ja. Haben sie nicht im letzten Jahr die Straße gesperrt, um irgendwelche Teiche zu entgiften?“
„Genau. Die Teiche liegen nur drei Kilometer von Munster entfernt direkt an der Bundesstraße.“ Sie scheint es abzulesen. „Früher wurde dort Kieselgur abgebaut, ein Gesteinsmehl mit vielerlei Verwendung, vor allem in der Baubranche. Bis zu 21 Meter tief waren die Gruben. Ich fasse mal zusammen, was passiert ist: Die Wehrmacht betrieb in der Gegend ein riesiges Waffen- und Kampfstofflager, Muna genannt. Es bestand aus über 150 Gebäuden und Bunkeranlagen. Viele der Bunker, manche zwanzig mal vierzig Meter groß, lagen getarnt unter Büschen und Bäumen im Wald. Nachdem die Muna 1945 kampflos von den Briten eingenommen war, brachten diese die meisten Granaten und Kampfstoffe zur Ostsee und versenkten sie dort.“
„Na dann wünsche ich einen schönen Sommerurlaub am Timmendorfer Strand!“ Ich kann mir diese Zwischenbemerkung nicht verkneifen. Elske lässt sich nicht irritieren.
„Allerdings. Doch ein Urlaub in der Heide birgt vermutlich größere Gefahren! In den Dethlinger Teichen wurden immerhin noch etwa 10.000 weitere Granaten versenkt, dazu Tankwagenweise Kampfstoffe, darunter auch 100 Fässer mit dem Kampfstoff ‚Lost‘. Du weißt, was das ist?“
Nein, ich weiß es nicht.
„Das ist Senfgas, eine der schrecklichsten Chemiewaffen überhaupt. Auch Sarin, noch tödlicher, haben sie dort versenkt. Aber während sich Sarin abbaut, bleibt Senfgas über Jahrzehnte äußerst gefährlich.“
„Das ist ja grässlich. Und jetzt hat man alles herausgeholt?“
„Noch längst nicht. Als Anwohner und Bauern Anfang der fünfziger Jahre Granaten aus den Gruben holten, um diese an Schrotthändler zu verkaufen, wurden einige von ihnen krank. Daraufhin hat man die Teiche mit dem Bauschutt gesprengter Bunker zugeschüttet. 1957 wurden endlich Messstellen errichtet, um das Grundwasser zu überprüfen. Der Rest ist logisch.“
„Sie haben Chemikalien und Giftstoffe im Grundwasser gefunden und alles muss raus.“
„Genau. Aber nach diversen Messungen hat man erst 2019 mit der Entnahme von Gefahrgut begonnen und ist noch längst nicht fertig. Bis Ende März 2020 wurden 33 Tonnen Munition, 2,8 Tonnen chemische Kampfstoffe und 780 Kilo Sprengstoff geborgen und durch die GEKA vernichtet.“
„Die GEKA?“
Ich denke an die blauen Transporter am Krater.
„Die ‚Gesellschaft zur Entsorgung von chemischen Kampfstoffen und Rüstungsaltlasten mbH‘ mit Sitz in Munster, dessen einziger Gesellschafter das Verteidigungsministerium ist. Sie besitzt die einzige Lizenz zur Vernichtung von Kampfstoffen in Deutschland.“
„Oh weh. Da werden die wohl im Himmelstaler Krater auch noch eine Menge Arbeit kriegen.“
„Das kann gut sein. Ich sagte ja, Gefahren durch alte Munition lauern überall. Wie oft hören wir in den Nachrichten, dass bei Bauarbeiten Blindgänger gefunden wurden. Es müssen manchmal ganze Stadtteile evakuiert werden. Auch die GEKA-Experten kommen dann zur Entschärfung. Besonders auf den Truppenübungsplätzen unserer Republik liegt noch massenhaft scharfe Munition, Giftgas und was weiß ich … Ich habe dir einen Link von den Funden in der Dippoldiswalder Heide in Sachsen geschickt. Dort haben sie im Dezember 2020 rund neunzig Tonnen Munition geborgen, darunter etwa dreiviertel Artilleriegranaten aller Kaliber. Man geht davon aus, dass sowohl deutsche als auch russische Soldaten nach Kriegsende riesige Mengen Munition entweder gesprengt oder vergraben haben. Besonders krass ist dies, wie gesagt, auf Truppenübungsplätzen. Wenn dort mal ein Waldbrand entsteht, müssen Menschen im Nahbereich um ihr Leben fürchten.“
Elske macht eine Pause.
Ich bin ernüchtert, entsetzt und irritiert. Klar, ich wusste, dass hier und da noch Munition lagert. Aber so viel? Und der Krater? Der könnte nach diesen Informationen nicht einfach eine Senke mit ein paar zufälligen Granat-Funden sein, sondern gewissermaßen ein Tor zur Hölle.
Ich nehme mir vor, mit den Typen von der GEKA Kontakt aufzunehmen. Wenn hier solche Gefahren im Boden lauern, muss unbedingt auch die Öffentlichkeit darüber informiert sein.
„Danke, Elske. Ich lese mir deine Anlagen dann mal durch.“
„Dann schau dir auch die aktuellen Zahlen an.“
„Zahlen zu Munitionsfunden?“
„Nein. Zahlen zu Munition, Waffen und Kriegsgerät, das wir gegenwärtig herstellen, nutzen und exportieren.“
Ich spüre Wut in Elskes sonst eher sanften Stimmlage.
„Du glaubst es nicht! Deutschland ist nach den USA, Russland und Frankreich viertgrößter Waffenexporteur. 5,5% aller Waffenlieferungen weltweit kommen von uns. Im Jahr 2021 wurden Exportgenehmigungen für Rüstungsgüter in Höhe von 9,35 Milliarden Euro erteilt. Fast die Hälfte davon ging an Ägypten, das im Jemen Krieg führt. Ausgerechnet die Türkei ist unser bester Kunde im Waffengeschäft. Ist das nicht unglaublich?!“
„Aber das sind nicht alles Granaten.“
„Nein, natürlich nicht. Es waren Kleinwaffen, gepanzerte Fahrzeuge, Kampfpanzer, U-Boote, Geländewagen, Ortungs- und Steuerungstechnik und diverse Zubehör- und Ersatzteile für Waffensysteme im Einsatz. Aber allein an den überaus fragwürdigen Wüstenstaat Katar wurden 40.000 Stück Munition geliefert. Ist das nicht grässlich?!“
„Dabei hat Deutschland die Exporte doch