Heidesilber. Herbert Weyand
denkbar schlecht.
*
zwei
Leicht wogte der Morgennebel. Die Sonne drückte blutrot im Osten und malte ein farbenprächtiges Bild durch den Kiefernwald. Paul Grebner schlenderte gemütlich den Heideparkplatz entlang. Diesen Weg benutze er im Sommer fast täglich. Morgens begegnete er niemandem, sodass die Stimmung den Tag friedlich begann. Um diese Zeit röhrten die Maschinen der AWACS noch nicht. Aus der Heide heraus begrüßten ihn Vogelstimmen. Hier sang die Amsel noch kurz vor dem Morgengrauen und nicht zwei Stunden früher, wie in der Stadt. Selten lief ein Reh über den Weg. Seines Wissens gab es noch ein, zwei Rudel. In der kargen Landschaft wurden die Rehe nicht größer als Schäferhunde. Ab und an begegnete er einem Jogger. Heute lief er allein.
Nein. Doch nicht. Hinter der Umzäunung des Militärgeländes sah er schon Bewegung. Auch ein Kuriosum. Die NATO Air Base lag inmitten des Naturschutzgebiets. Manchmal stellte er sich die Frage, ob das Sperrgebiet die Natur, Tier und Pflanzen, schützte oder den Flughafen.
Den Spaziergang schloss Paul an diesem Morgen am Katharynensee. Dort drehte er eine Zigarette und ließ die Gedanken schweifen. Den kleinen See gab es schon ewig. Heute zauberte die Sonne spiegelnde Farbenspiele. Während rundherum Gewässer in den Kiesabbaugruben entstanden, fanden der Katharynenhof und der See schon im Mittelalter Erwähnung. Rechts nahm er eine Bewegung wahr. Unmutig stand er auf und blickte in den lichten Wald. Er wollte nicht gestört werden.
Ein leiser Ruf lenkte die Aufmerksamkeit dorthin. Dort kämpften zwei Menschen.
»Heh«, rief Paul. Das fehlte ihm noch. Aber tatenlos zusehen lag ihm nicht. Die beiden stoben auseinander und sahen zu ihm hinüber. Scheinbar Jogger. Sie trugen die Kapuzen ihrer Jacken über den Kopf gezogen. Die größere der Gestalten machte eine heftige Stoßbewegung und lief in den Wald hinein. Die andere Person sackte langsam zusammen und fiel nach hinten.
Paul stürmte zu dem Platz der Auseinandersetzung. Der Jogger lag wie tot am Boden. Er ging auf die Knie, um nach eventuellen Lebenszeichen zu suchen. Ein leises Rascheln ließ ihn herumfahren. Dann setzte der Verstand aus.
Mühsam kämpfte Paul mit der Dunkelheit und dem Dröhnen im Schädel. Allmählich verschwand der Nebel vor den Augen und er sah in das Sandloch, in dem sein Kopf steckte. Was war geschehen? Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Der berühmte Schlag mit einem harten Gegenstand. So sagte man doch in den Krimis, wenn man einen Schlag mit dem Spaten oder einem Stück Holz über die Rübe bekam. Die dazugehörige Beule am Hinterkopf wurde wohl als Hämatom bezeichnet. Trotz der bescheidenen Lage grinste er wegen der blöden Gedanken. Er rollte aus der Bauchlage und sah tatsächlich den Jogger in der gleichen Haltung, wie vor dem Schlag auf seinen Kopf. Wie lange lag er hier weggetreten? Der Typ lebte hoffentlich? Das fehlte noch. Unter großer Kraftaufbietung stand er auf. Bis auf das Hämatom und dem leichten Schleier vor den Augen schien alles in Ordnung. Er sah zu der bewegungslosen Gestalt hinüber. Sie atmete. Gott sei Dank. Über dem Brustkorb lagen zwei Hügel, die sich hoben und senkten. Eine Frau oder ein Mädchen stellte er fest. An ihrer linken Seite, kurz unter dem Rippenbogen, machte ihm der dunkle Fleck, auf der Kleidung, Sorgen. Eifrig riss er an dem Stoff, um die augenscheinliche Wunde freizulegen. Keine Chance. Ein haltbares Kunstgewebe. Verdammt, fluchte er. Früher hatte er doch kein Problem damit, eine Frau auszuziehen. Er löste das Oberteil, das, mittels Klettverschluss, einen Overall bildete. Ein Messerstich. Unterhalb des Rippenbogens quoll stetig dunkles Blut hervor. Also keine Arterienverletzung. Vielleicht hatte die Fremde Glück? Er streifte sein Shirt über den Kopf und drückte es fest auf die Wunde. Umständlich zog er den Kapuzenpullover über ihren Kopf und wickelte, mit dessen Ärmeln, die behelfsmäßige Kompresse fest.
Paul bog den Rücken durch. Da stand er nun mit seinen knappen zwei Metern und wusste nicht, was er tun sollte. Wie immer lag das Handy zu Hause in irgendeiner Ecke. Die Verletzte benötigte Hilfe und alleine lassen ging nicht.
Paul lebte wie der typische Einzelgänger. Seit einer Krebsoperation vor wenigen Monaten durfte er nicht mehr arbeiten. Vierzig Jahre alt und nur noch ein halber Mensch. Manchmal unterlag er der Versuchung, in endlosem Selbstmitleid zu versinken. Aber es brachte nichts. Das Leben ging weiter. Immer wieder kroch er aus seinem Loch heraus. Erst seitdem er seine morgendlichen Spaziergänge unternahm, sackte er weniger häufig in depressive Phasen. Mittlerweile fühlte er sich körperlich fit und bekam den Eindruck, von Tag zu Tag kräftiger zu werden. Auf dem gebräunten Gesicht und um die blauen Augen lagen zahlreiche kleine Fältchen. Früher lachte er viel. Vielleicht kamen sie daher. Die Züge wiesen jungenhafte Verletzlichkeit aus. Die langen dunklen Haare lockten bis auf die Schultern. Die Jeans saß stramm und spannte über dem knackigen Hintern, den manche Frau mit begehrlichem Blick musterte. Die breiten Schultern mündeten in kräftigen Oberarmen. Die Brustmuskulatur trat unter der Last der Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, deutlich hervor. Was sollte er tun? Konnte er die Frau bewegen?
Er musterte die Verletzte. Sie war groß. Mindestens eins achtzig und sah, wie sie dort lag, sehr verletzlich aus. Ihre mittelgroße Brust stützte ein kräftiger Sport-BH mit einem breiten Stützrand. Deshalb die beiden Hügel, die ihm ihr Geschlecht verrieten. Die Beine waren lang und er vermutete, sehnig. Das Alter lag so um die dreißig oder jünger. Das Gesicht, im Moment farblos, wies nicht die klassischen Schönheitsmerkmale auf. Es mutete auf eine seltsame Art und Weise flach an, mit etwas schräg liegenden grauen Augen, in denen leichte Schleier lagen. Graue Augen? Gott sei Dank. Sie erlangte das Bewusstsein.
»Bleiben sie ruhig liegen. Sie sind schwer verletzt.« Er sprach die Verletzte so ruhig, wie möglich an.
»Wat is gebeurd?« Sie versuchte, sich aufzurichten.
Oh Scheiße, eine Holländerin. Paul erwartete wie die meisten im Grenzgebiet, dass Holländer Deutsch sprachen. Er verstand die Sprache, es reichte jedoch nie, sie selbst zu sprechen.
»Sie haben eine Stichverletzung und müssen so schnell wie möglich in ein Krankenhaus.« Sanft aber mit Nachdruck legte er ihr eine Hand auf die Schulter.
»Oh, een Duitser. Ja, der hat mich gestochen. Mit eine Messer.«
»Ein Bekannter von Ihnen?«
»Dat war Huub. Der wollte der Scheibe, die ich heb gevonden. Ich wollte sie nicht geben, da hat er …«, sie kniff die Augen zusammen und verzog das Gesicht. »Het doet pijn.«
»Klar tut das weh. Kann ich sie hier alleine lassen? Dann hole ich Hilfe. Oder haben sie ein Handy dabei?«
»Nein. Keine Handy. Hol keine Hilfe. Ich kann gehen.« Sie versuchte, aufzustehen. Paul wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Möglicherweise lagen innere Verletzungen vor. Dennoch half er ihr. Schmerzhaft verzog sie das Gesicht und in den Augen zuckten Punkte hin und her. Die Schmerzen schienen gewaltig. Mühsam unterdrückte sie eine weitere Ohnmacht und stand tapfer auf ihren Beinen.
Sie lehnte sich gegen ihn und drückte die behelfsmäßige Kompresse in ihre linke Seite. »Komm. Wir gehen.« Mit zusammengebissenen Zähnen setzte die Holländerin Schritt vor Schritt. Er stützte sie auf der unverletzten Seite. Jeder Schritt wurde sicherer.
Wenn jetzt jemand vorbeikommt, schoss ihm durch den Kopf, sind wir ein seltsames Paar. Beide mit freiem Oberkörper. Na ja, sie hatte zumindest ihren BH an.
Sie kamen zum Heideparkplatz. Kein Auto.
»Weg. Mein Auto ist weg.«
»Geklaut?«, fragte Paul.
»Ja. Es ist weg.«
»Warten Sie dort auf der Bank. Ich hole mein Auto. In zehn Minuten bin ich wieder hier. Kann ich Sie allein lassen?«
Sie nickte. »Mach schnell. Es tut weh. Keine andere Hilfe.«
»Klar«, er spurtete in Richtung Dorf. Was mag geschehen sein? Die Frau war sehr wortkarg und hatte nicht viel gesagt. Weshalb wollte Sie keine professionelle Hilfe? Die Polizei musste hinzugezogen werden, schließlich hatte dieser Huub zugestochen.
Nach wenigen hundert Metern ging ihm die Luft aus. Keine Kondition und zu viel Zigaretten. Das Herz