Heidesilber. Herbert Weyand
angehörte. Labhruinn, ein finsterer Mann, flößte ihm mehr Angst als Respekt ein. Der Druide führte die Schule mit harter Hand. Die alt überlieferten Bräuche und Riten wurden getreu der Worte und Bewegungen gelebt und auswendig gelernt. Abweichungen und Interpretationen gehörten nicht zum Lehrplan. Labhruinn predigte, dass die Seelen der Menschen und die Welt unvergänglich seien. Durch Feuer und Wasser erneure sich alles. Die Menschen starben nicht, sondern lebten in ihren Verwandten weiter. Deshalb brauche auch niemand Angst zu haben, ehrenvoll im Kampf zu sterben. Er wurde wiedergeboren.
Kendric dachte eigene Gedanken. Hatte er doch häufiger erlebt, dass Labhruinn den Stamm, nicht selten mit einem kleinen Trick, auf seine Seite brachte. Die Menschen lebten in Angst vor ihm. Unbestreitbar stand Labhruinn mit den Göttern in Verbindung. Weshalb gebrauchte er dann Scharlatanerie? Er besaß ein Pulver, welches Nebel erzeugte, aus dem er, bei großen Festen, mit erhobenen Händen heraustrat. Der Stamm und auch alle anderen Menschen liebten ihn nicht. Der Druide lebte als notwendiges, aber geachtetes Übel unter ihnen.
Kendric gehörte mit der hochgewachsenen Gestalt zu den Größten des Stammes. Schlank wie eine Tanne, und trotz des jungen Alters mit tanzenden Muskeln auf dem Körper, wirkte er mehr wie ein Krieger, als ein angehender Druide. Aus dem ansprechenden Gesicht sahen kühle, auffallend blaue Augen auf die anderen nieder. Häufig spielte ein Lächeln um die Lippen, dessen er sich nicht bewusst war.
Heute ging er in den Wald. Nur zu diesem Vollmond im Jahr bestand die Möglichkeit, eine bestimmte Pflanze zu sammeln. Sie bewirkte einen Zauber. Zu Heffyn, dem Eichenfest, wurde daraus ein Trank zubereitet. Nur wenigen Menschen gestattete der Druide, diese Kräuter zu ernten. Sie wurden einem Ritual unterzogen, das sie reinigte. Er hatte davon jetzt noch die Striemen auf dem Rücken. Labhruinn schlug die bösen Gedanken mit Weidenruten aus ihm heraus. Kendric verschwieg mittlerweile immer häufiger, wenn er selbstständig dachte, auch auf die Gefahr hin, auf immer verdammt zu sein.
Doch Labhruinn ließ immer Vorsicht walten und reinigte auf Verdacht.
Falls Kendric heute die Zauberpflanze finden sollte, würde sie so oder so keine Wirkung haben. Als er am frühen Abend losging und nicht wie vorgeschrieben die Augen senkte, begegnete ihm Bronwyn, die fünfzehnjährige Tochter des Stammesführers. Sie warf ihm einen kecken Blick zu, der ihm bis in Fußspitzen fuhr. Der Verstand, eine besonders große Sünde, und sein Körper gerieten in Aufruhr. Von diesem Zeitpunkt an dachte er an nichts anderes mehr. Bronwyn stand vor seinem inneren Auge. Die Grübchen ihrer Mundwinkel lockten versprechend. Ihre schlanken Beine zeichneten sich unter dem Gewand deutlich ab.
Das Chaos in seinem Kopf lenkte ihn ab. Mit Macht versuchte er, die unreinen Gedanken zu verdrängen, aber es gelang ihm nicht. Nicht auszudenken, wenn der Energiefluss der Eiche durch seine fehlende Disziplin nicht auf die Menschen überging. Er störte das Gleichgewicht. Labhruinn würde ihn schlagen und unter Umständen verstoßen. Der Baum des Lebens hielt die Welt zusammen.
Er ließ sich auf dem Boden nieder und sammelte die Gedanken, wie er es gelernt hatte. Alles glitt von ihm ab. Sein Inneres wurde leer. Gott Cernunnos erschien ihm. Das mächtige Geweih wogte über dem Hirschkopf. Schemenhaft und schwerelos glitt das mächtige Tier durch den Wald. Die Konturen strahlten in hellem Licht. Kendric versank in den Augen des Traumtieres und folgte den Bildern, die sich einstellten. Vor ihm lag eine andere, unbekannte Welt. Die Anderwelt. Er machte den kurzen Schritt hinein, dorthin wo die mächtigen Geister über die Menschen wachten. Undurchdringliche Nebelwolken empfingen ihn. Ein Lichtstrahl drang aus der dunstigen Masse und ließ die Sterne zum Greifen nah erscheinen. Eine Spirale geriet in Drehbewegung und zog ihn hinein. Plötzlich stand er inmitten der Rotation der Planeten und erkannte ihre Umlaufbahnen. Die Zusammenhänge des Lebens offenbarten sich ihm. Alles gehörte zusammen. Die Bewegung der Planeten untereinander hielt die Welt zusammen. Sie stellte Gleichgewicht her. Die Sonne gab das Licht und die Kraft. Doch weit hinten, zwischen den vielen, vielen Sternen, lauerte eine weitere nebelartige Wolke, aus der, zwar undeutlich und verschwommen, ein Gesicht lauerte. Dort lockte das Böse.
»Kendric«, schreckte ihn die mächtige Stimme wie ein Donnerschlag aus der Betrachtung. Er erschrak nicht. Hier geschah ihm nichts. »Du hast den Schritt in die Anderwelt getan und damit Mut bewiesen, den andere Druiden bisher nicht aufbrachten.«
»Ich bin kein Druide. Ich muss noch viel lernen. Labhruinn sagte, ich werde es nie schaffen.«
»Labhruinn ist ein guter Mann und verlangt von seinen Eleven alles, was sie zu geben in der Lage sind. Dadurch stehen ihm alle Wege offen, die Geheimnisse für den Stamm zu nutzen und zum Besten anzuwenden.« Gott Cernunnos stand in Menschengestalt vor ihm. Jedoch mit dem riesigen Geweih versehen, das er vorhin schon als Hirsch trug. Gewaltige Kraft strömte aus den Augen des göttlichen Wesens auf ihn hinüber. Die Veränderung kam schneller, als sein Denkprozess ablief. Nicht körperlich. Sie geschah im Inneren. Bevor er den Gedanken zu Ende führte, saß er wieder auf dem Waldboden. Oder saß er dort immer noch? Er konnte es nicht sagen.
Zumindest wusste er nun, dass Labhruinn unrecht hatte. Die bösen Gedanken schadeten nicht. Das neue Wissen gab ihm Freiheit. Erleichtert erhob er sich und setzte den Weg fort. Die Stimmen des Waldes klangen anders als vorhin. Sie schwangen im Inneren und zeugten vom Gleichgewicht mit der Natur. Nach wenigen Minuten sah er die geheimnisvolle Pflanze, die für das Fest Heffyn benötigt wurde. Er sprach die überlieferten, komplizierten Worte und schnitt vorsichtig einige Zweige mit der heiligen Sichel ab. Sie wurde nur benutzt, um die heilige Pflanze zu schneiden.
Auf dem Rückweg wanderten die Gedanken zu dem alten Druiden des Dorfes. Er verstand nun dessen strenge Erziehung. Der wichtigste Sinn des Lebens lag darin, aus der Vergangenheit für die Gegenwart zu lernen. Der Zusammenhalt der Welt, das Überleben der Menschen hing davon ab. Seine künftige Aufgabe bestand nun darin, die Welt zu festigen und vor der fernen Erscheinung in der Anderwelt, zu schützen.
Labhruinn erwartete ihn am Eingang ihrer Siedlung und zog ihn zu seiner Hütte. Während der Stamm in einem Langhaus hauste, lebte der Druide seinem eigenen Refugium. Er schob Kendric hinein. Gemessen trat dieser in den halbdunklen Raum, der vom vollen Mond etwas Licht abbekam.
»Wo hast du die Pflanze?«, Labhruinn stand ungeduldig vor ihm. Die Hände zuckten wie Klauen aus dem dunklen Stoff des Gewandes.
»Hier«, Kendric hielt die Stängel hin.
»Was? Nicht mehr?«
»Das reicht«, kam die ruhige Antwort des jungen Mannes.
»Was erdreistest du dich?« Labhruinn stürzte auf ihn zu, die Hand zum Schlag erhoben. Mitten in der Bewegung hielt er inne. »Du warst in der Anderwelt«, stammelte er leichenblass.
»Ja. Ich habe mit Cernunnos selbst gesprochen.«
»Dann ist es also an der Zeit?«
»Ja. Ich denke schon.«
»Gehst du? Oder gehe ich?«
»Ich gehe.« Kendric sah ihn ruhig an. »Ich werde Bronwyn mitnehmen. Aber ich muss noch bis Beltane, dem Frühlingsfest, warten.«
»Das ist gut. Dann kann ich noch eine lange Zeit von dir lernen.«
»So sei es«, nickte Kendric und wandte sich ab, um zu gehen.
»Warte. Du kannst nicht mehr im Langhaus schlafen. Du bist geweiht.« Der Alte hielt ihn auf.
»Ich weiß«. Er ging hinaus.
*
»So. Erst einmal genug.« Griet unterbrach den Redefluss und hob die leere Flasche.
*
vier
»Oberkommissar Bauer.« Heinz hielt Paul Grebner den Ausweis hin. Den Mann kannte er.
»Professor. Komm rein.« Paul deutete in den Flur. Er nannte den Spitznamen des Oberkommissars, unter dem er im Dorf bekannt war.
»Klar«, sagte Heinz. »Paul … bei mir hätte es früher klingeln müssen.« Er kannte Grebner aus der Dorfkneipe, wo er nach Feierabend schon einmal ein Bier trank. »Ich bin dienstlich