Das Model und der Walflüsterer. Ava Lennart
werfe ich meiner Tochter, die zu viele Vokabeln aus meiner Welt aufschnappt, einen Blick zu. Christiane macht einen verwirrten Eindruck und scheint Valéries Aussage zu überdenken. Ich spüre, wie meine Wangen sich erhitzen. Sie denkt doch nicht etwa ... !
„Mister Chang ist heute unser Gast. Er ist ein möglicher Investor in mein Unternehmen. Meine Tochter hat eine sehr blumige Sprache“, korrigiere ich Valéries Aussage. Sichtlich erleichtert, mustert Christiane uns mit wachsamen Augen.
„Dann müssen Sie mit Ihrem Mann einmal bei uns vorbeischauen.“
„Meine Mutter hat keinen Mann. Unsere Familie sind Mama und ich. Mein Vater lebt in Paris.“ Was ist nur in Valérie gefahren? Das geht die fremde Frau nichts an. Was soll sie von mir denken? Christiane scheint der Spruch von Valérie nicht zu stören. Im Gegenteil! Sie mustert mich eindringlich. Ein interessiertes Glitzern stiehlt sich in ihre blauen Augen. Unvermittelt fühle ich mich, als hätte ich einen Test bestanden.
„Wunderbar! Bitte seien Sie heute unsere Gäste.“ Überrumpelt von Christianes Herzlichkeit – oder geht es nur mir so? - lässt sich unsere kleine Gruppe an den Tisch führen. Die Sitzecke aus unbehandelten Holzmöbeln strahlt „deutsche Gemütlichkeit“ aus. Auf den Bänken liegen flaschengrüne Filzkissen. Auch auf dem Tisch befinden sich schlichte Filzuntersetzer. Zu meinem Erstaunen nimmt Christiane ebenfalls Platz. Auf ihr Fingerschnippen hin nähert sich zur sichtbaren Freude von Mister Chang eine Dirndl-Bedienung. Als sie die Speisekarten verteilt, will ich dankend abwinken. Schließlich wartet der Tisch in Chinatown auf uns. Aber Mister Chang starrt so gebannt in das Balkon-Dekolleté, dass ich innerlich umdisponiere.
„Peter. Da bist du ja. Komm zu uns!“ Christiane winkt einem Herrn mit grauem Haar zu, ebenfalls in Tracht. Er hat das Restaurant durch eine Seitentür betreten und hält einige Papiere in der Hand. Instinktiv weiß ich, das ist Alexanders Vater. Er hat die gleiche Aura wie sein Sohn. Eine männliche, raumbeherrschende Präsenz. Moment mal. Habe ich Aura gedacht? Jetzt geht es mit mir durch. Dieser Holzklotz Alexander hat außer schlechter Laune überhaupt keine Aura. Christiane zieht den Mann auf den Platz neben Valérie.
„Stell dir vor, unser Sohn hat diese hübsche Landsmännin kennengelernt.“ Christianes Augenbrauen sind bei dem Satz bedeutungsvoll hochgezogen. Mir wird mulmig zumute. Was geht hier vor? Bin ich auf der Fleischbeschau eines Heiratsmarktes?
Peter hält mir die Hand hin und ich erkenne das Lächeln wieder, das sein Sohn mir zaghaft geschenkt hat. Bevor ich ihn in seine Schranken verwiesen habe.
Ich senke den Blick, irritiert von meinen Gedanken, und öffne die Speisekarte. Sofort bin ich abgelenkt und schmunzle. Sämtliche deutsche Leibgerichte meiner Schwester und mir sind aufgeführt: Schweinebraten, Kohlrouladen, Blaukraut, Heringsstipp, Königsberger Klopse, Kartoffelpuffer, und, und, und. Mein Magen jauchzt vor Freude und das Wasser läuft mir im Munde zusammen. Am liebsten hätte ich die Speisekarte rauf und runter bestellt. Merkwürdig, dass mir das Restaurant bislang nie aufgefallen ist. Gleichzeitig sticht mir die Sehnsucht nach meiner Mutter ins Herz. Sie kann diese Köstlichkeiten seit der Rückkehr nach Deutschland höchstens einmal im Jahr für mich zubereiten. Obwohl ich passabel koche, schmecken sie einfach nicht so gut wie bei ihr. Ich hebe die Augen. Anscheinend bin ich die einzige die hungrig ist und die Speisekarte studiert habe. Valérie unterhält sich lebhaft mit Christiane. Mister Chang lächelt und studiert die Konstruktion der Holzbalken an der Decke.
„Mister Chang“, wende ich mich ihm zu, „wir könnten hier etwas essen. Die deutsche Küche ist sehr schmackhaft und passt hervorragend zu meinem deutschen Design.“ Mister Chang nickt höflich, was ich als sein Einverständnis werte.
„Meine Mama sagt, in Heidelberg gibt es überhaupt keine Dirndl. Stimmt das? Ich war leider noch nie in Heidelberg.“ Wieder stöhne ich innerlich, aber Christiane grinst nur.
„Da hat deine Mama recht. Unsere Familie stammt auch nicht aus Heidelberg sondern aus einer kleinen Stadt im Odenwald. Aber Heidelberg klingt als Name spannender als Michelstadt. Das scheint in der Welt der Inbegriff des romantischen Deutschlands zu sein. Genauso wie das Dirndl. Seit unsere Bedienungen Dirndl tragen, ist der Umsatz verdoppelt.“ Sie zuckt mit den Achseln. Valérie grinst in Richtung Mister Chang. „Hm, ich kann mir vorstellen, woran das liegen könnte...“ Es ist Zeit für meinen Einsatz und ich werfe meiner Tochter einen warnenden Blick zu.
„Auf jeden Fall haben Sie es gemütlich.“
Christiane und Peter strahlen.
„Es freut mich, Elle, wenn es Ihnen gefällt. Es war ein Haufen Arbeit, aus dieser heruntergekommenen Hafenkaschemme das zu machen, was Sie heute sehen. Wir hätten besser damals abgerissen, statt den Bestand zu restaurieren. Aber das stellte sich erst heraus, als der Umbau bereits zu weit fortgeschritten war.“ Christiane nickt zu den Worten ihres Mannes.
„Zwischendurch war ich drauf und dran, aufzugeben. Jetzt, nach drei Jahren Arbeit, sehen wir endlich, dass der Aufwand gelohnt hat. Auch dank der Dirndl.“
Christiane streicht Valérie liebevoll über die blonden Locken und ich bin überrascht, dass meine Tochter den Kontakt von einer fremden Frau zulässt. Es liegt wahrscheinlich an Christianes offenem Wesen, das auch sie bezaubert.
„Die Tracht war übrigens Alexanders Idee.“ Innerlich verdrehe ich die Augen. War klar, dass dem Freund von Schwerenöter Neil O´Ryan hochgepushte Brüste als Verkaufsargument einfallen. Christiane blickt stirnrunzelnd auf ihre Armbanduhr und dann zur Tür. „Wo bleibt er nur?“ Sofort beißt mich das Gewissen. Obwohl er daran schuld ist, dass mein Handy weggeflutscht ist.
Valérie ist nicht mehr zu bremsen.
„Wo kann man denn diese Dirndl kaufen? Gibt es die auch in meiner Größe?“ Christiane lacht auf.
„Gefallen sie dir? Die Dirndl fertigt eine Freundin von mir an. Alles beste Handarbeit.“ Sie rückt ein Stück ab und betrachtet Valérie von oben bis unten. „Ich denke, Größe „S“ dürfte passen. Davon habe ich eins. Wir hatten vor einem Jahr eine jugendliche Praktikantin.“ Valérie strahlt übers ganze Gesicht.
„Mama, hast du das gehört? Ich bekomme wieder ein Dirndl.“ Ich lächle schief. So simpel ist es also, meine mürrische Teenagertochter zu erfreuen. Die dralle Dirndl-Blondine von draußen nähert sich dem Tisch. Mister Changs Gesicht erhellt sich, und wir geben unsere Bestellung auf. Wurde langsam Zeit. Mein Magenknurren ist mittlerweile peinlich.
„Ihre Freundin näht die Dirndl? Ich bin in der Textilbranche und immer auf der Suche nach gewissenhaften Näherinnen. Wenn sie Aufträge braucht, wäre ich an einem Kontakt interessiert.“ Valérie verdreht die Augen. Sie hasst es, wenn ich ständig über die Arbeit rede.
„In der Textilbranche? Was genau machen Sie denn?“
„Mama näht unglaublich schöne Kleider für Schwangere.“ Christiane zieht anerkennend die Brauen hoch und Peter lächelt versonnen.
„Nun ja, von selbst nähen kann keine Rede mehr sein. Ich habe mich seit Valéries Geburt mit einem eigenen Label für Schwangerschaftsmode selbstständig gemacht. Genau wie Sie nutze ich den guten Ruf des deutschen Handwerks und habe es Babe in Germany genannt.“
Valérie ist plötzlich aufgeregt.
„Mama, meinst du, du könntest Dirndl für Schwangere in dein Programm aufnehmen?“ Einen Moment starre ich irritiert auf meine Tochter.
Christiane fängt lauthals an zu lachen und Valérie und ich lassen uns anstecken. Selbst Herr Chang, der nicht wissen kann, worum es geht, kichert.
FAMILIENANSCHLUSS
ALEXANDER
Mit einem Windstoß öffne ich die schwere Eichentür und poltere mit den Gummistiefeln in das Lokal. Sofort fällt mein Blick auf die Stammtischecke, und ich traue