An den Ufern des Nebraska. Lennardt M. Arndt

An den Ufern des Nebraska - Lennardt M. Arndt


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im Gefängnis gestorben. Wegen der Verleumdung durch seinen eigenen Stiefbruder, diesem Dan Etters und seinem sauberen Helfer Thibaut.“

      Ich raufte mir die Haare. Dann drehte ich mich zu Mr. Wallace um und fragte:

      „Was wurde aus dem Rest meiner Familie? Sind meine Mutter und mein Onkel noch immer auf der Flucht? Durfte ich deshalb keinen Kontakt zu ihnen haben? Aber mein Bruder, Fred …, er und meine Tante waren doch bei dir? Wieso wusste ich bis heute auch von ihnen nichts?“

      Wieder dieser unergründliche Blick von Mr. Wallace. Ich rief:

      „Nun rede doch schon!“

      Er holte tief Luft und setzte die unterbrochene Geschichte meiner Familie fort.

      Derrick brachte meine Mutter nun auch nach Taos. Schließlich sollte sie wieder zu ihren Kindern. Sie kamen am Tage der Hochzeit Thibauts und Ellens dort an und platzen in die Trauungszeremonie. Derrick riss seiner Schwester den Kranz vom Kopf, woraufhin Etters und Thibaut über ihn herfielen. Es entspann sich ein Kampf, in dessen Verlauf Derrick Thibaut in den Arm schoss.

      Meine Tante hatte sich über die Gefangenschaft ihrer Geschwister gegrämt; sie war krank und schwach dadurch geworden. Durch den Schreck über die plötzlich unterbrochene Trauung und den Schusswechsel erlitt sie einen Zusammenbruch. Sie sprach irr im Fieber, und verfiel dem Wahnsinn. Sie tobte und war nur dann ruhig, wenn sich mein Bruder Fred bei ihr befand, den sie sehr liebte.

      Darum wusste Derrick sich nicht anders zu helfen, als seine Schwester einem Arzt anzuvertrauen. Fred musste bei Ellen bleiben, da eine Behandlung der Kranken ohne ihn wohl nicht möglich gewesen wäre. Meine Mutter, Derrick und ich wohnten bei Mr. Wallace. Und alle glaubten, Etters und Thibaut seien verschwunden.

      Schließlich ging das Geld zur Neige und Derrick wollte erneut in die Felsenberge gehen, um Gold holen. Meine Mutter begleitete ihn. Ich blieb bei Mr. Wallace. Als nach mehreren Wochen Nachrichten Derricks und meiner Mutter ausblieben, wollte Mr. Wallace nach meiner Tante Ellen sehen und sich bei ihr erkundigen, ob vielleicht Nachricht vorläge.

      Als er jedoch bei dem behandelnden Arzt nach ihr fragte, teilte man ihm mit, die Kranke sei von ihrem Ehemann abgeholt worden. Dieser habe Papiere vorgelegt, womit er die Eheschließung mit Ellen Bender habe beweisen können. Sie führe nun, wie er selbst, den Namen „Lassalle“.

      Dieser „Lassalle“ war natürlich kein anderer, als der Fälscher Thibaut, der Ellen entführt hatte. Als der Arzt noch berichtete, jener Lassalle sei in Begleitung eines anderen Mannes gewesen, dessen obere Zahnreihe, je rechts und links, auffällige Zahnlücken aufwies, war auch der letzte Zweifel ausgeräumt. Denn bei diesem Mann musste es sich um Dan Etters handeln, der genau solche Zahnlücken hatte.

      Mr. Wallace war jetzt überzeugt, dass meine Mutter und Derrick von Etters und Thibaut verfolgt worden waren. Diese Verbrecher hatten sich also seit der unterbrochenen Trauung versteckt gehalten, um auf die Chance zu lauern, doch noch an das ersehnte Gold zu kommen.

      Weil meine Mutter und Derrick nicht zurückgekehrt waren, mussten Etters und Thibaut ihr Ziel erreicht und sie getötet haben.

      Mr. Wallace selbst war, weil er sich auf die Seite meiner Familie geschlagen hatte, nicht mehr sicher. Er verwischte also alle Spuren, nahm den Namen Wallace an und floh mit mir nach Jefferson City, wo er sein Bankgeschäft gründete. Dazu verwendete er das Gold, welches er von Derrick als Belohnung für die Befreiung aus dem Gefängnis und die Inobhutnahme seiner Neffen erhalten hatte.

      Hier endete der Bericht meines Ziehvaters. Ich hatte jedes Wort mit innerer Erregung aufgenommen und wollte noch weitere Details wissen.

      Gab es keine Möglichkeit, dass meine Mutter und Derrick noch lebten? Hatte es nie ein Lebenszeichen von Fred und meiner Tante gegeben?

      Leider musste Mr. Wallace beide Fragen verneinen. Da er damals jede Spur, die zu uns führen konnte, ausgelöscht hatte, konnte er zwar nicht völlig sicher sein, dass meine Mutter und Derrick nicht doch noch am Leben waren und vielleicht nach mir, Fred und Ellen geforscht hatten. Doch wie die Dinge lagen, musste er annehmen, dass Etters und Thibaut die beiden umgebracht hatten.

      Seine eigenen Nachforschungen nach Ellen und meinem Bruder waren auch nicht erfolgreich gewesen. Niemand kannte in Taos Thibaut oder Etters. Niemand, außer dem Arzt Ellens, kannte einen Lassalle. Und so verliefen alle Spuren im Sande. Ich war so erregt, dass ich ihn anschrie:

      „Du hast nicht gründlich genug geforscht. Es muss doch irgendwelche Hinweise gegeben haben.“

      „Nein, mein Junge!“, antwortete er „Niemand konnte sich erinnern, zwei Männer und eine Frau mit einem einjährigen Knaben gesehen zu haben. Niemand konnte mir sagen, wie sie die Stadt verlassen hatten. Der Arzt hatte sich um die Leute, die seine Patientin abholten, nicht weiter gekümmert, weil er alles in Ordnung fand. Erst später, auf mein Betreiben, zeigte er Thibaut und Etters wegen Entführung an. Es gab keinerlei Spuren.“

      „Was war mit meiner Mutter und Derrick? Du hast dich nicht nach ihnen erkundigt? Bist einfach aus Taos verschwunden?“

      „Ich habe dir doch gesagt, wie die Sache stand. Etters und Thibaut waren wieder da und nahmen deinen Bruder und Ellen mit sich. Es war klar, dass sie deine Mutter und Derrick gehindert hatten, nach Taos zurückzukehren. Sie waren lange überfällig gewesen. Es musste ihnen etwas zugestoßen sein.“

      „Nein, das musste es nicht. Sie waren in die Wildnis gegangen. Du musst doch wissen, dass da immer Dinge geschehen können, die nicht vorherzusehen sind und wodurch man aufgehalten werden kann. Sie waren sicher noch am Leben.“

      „Mein Junge, … ich habe selber auch damals daran gedacht, dass ich vielleicht zu überstürzt aufgebrochen bin, aber ich habe dann noch Nachforschungen anstellen lassen. Der Detektiv, den ich anonym beauftragte, nachzuforschen, ob eine Frau namens Emily Bender oder ein Pater Derrick nach Taos zurückgekehrt waren, teilte mir mit, dass er auch drei Monate nach unserem Aufbruch keinerlei Spuren deiner Mutter und ihres Bruders finden konnte. Ich gab dann die Suche auf, weil ich nun sicher war, dass sie tot waren. Alles andere ist vollkommen unwahrscheinlich, Leo.“

      „Nein, ist es nicht. Du warst nur zu feige! Du hattest nur Angst um dein eigenes, armseliges Leben. Der bestochene Gefängniswärter Beckett auf der Flucht! Du musstest ja nicht nur Angst vor Etters und Thibaut haben, du wurdest ja wahrscheinlich auch von den Behörden gesucht.“

      „Ich kann es dir nicht übelnehmen, dass du mir solche Vorwürfe machst. Aber glaube mir, ich habe alles versucht, deine Mutter und Derrick oder Fred und deine Tante zu finden. Aber nichts!“

      Ich konnte ihn nicht mehr ansehen, vor Wut stiegen mir die Tränen in die Augen. Ich drehte mich also von ihm weg und rannte aus dem Raum, die Treppe hinauf, um mich in meinem Zimmer einzuschließen und niemanden sehen zu müssen. Er versuchte nicht, mich zu hindern.

      Meine Gedanken rasten. Ich wusste nicht wohin mit meiner Wut und meiner Trauer. Ich wusste nicht mehr, wer ich war. Meine ganze Welt war ein einziger Scherbenhaufen. Mein Vater war also im Gefängnis als Falschmünzer gestorben. Meine Mutter war eine Moqui und … ich hatte einen Bruder!

      Wir waren Halbblute! Mischlinge! Nicht gerade das, was man in Jefferson City haben wollte. Aber das war mir jetzt egal. Meine Gedanken waren wirr. Heute kann ich mich kaum daran erinnern, wie ich mich mit der neuen Situation zurechtfand. Aber nach einigen Tagen, in denen ich mein Zimmer nicht verlassen und kein Wort mit Mr. Wallace oder Mrs. Pittney gesprochen hatte, wurden meine Gedanken klarer.

      Ich hatte also einen Bruder. Vielleicht hatte ich auch noch eine Mutter, eine Tante und einen Onkel. Ich musste nach ihnen forschen und ich musste die Männer finden, die meinen Vater auf dem Gewissen hatten. Dan Etters und Lothair Thibaut!

      Aber wie sollte ich all dies anfangen? Ich war ja nur ein fünfzehnjähriger junger Kerl. Kein Alter, in dem man allein, einfach so, Nachforschungen anstellen und in die Welt hinausziehen konnte. Schon gar nicht, ohne die notwenigen Kenntnisse und Fertigkeiten. Ich musste also Geduld haben und warten. Irgendwann würde sich die Gelegenheit


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