An den Ufern des Nebraska. Lennardt M. Arndt

An den Ufern des Nebraska - Lennardt M. Arndt


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gehen, um dort zu versuchen, Anknüpfungspunkte zu finden. So wie die Dinge lagen, waren mir aber zunächst die Hände gebunden. Alles, was ich tun konnte war, Mr. Wallace zu bitten, noch einmal zu versuchen, bei den Personen zu denen er, meine Mutter und Derrick zur damaligen Zeit Kontakt hatten, Informationen einzuholen.

      Das nahm ich mir nun fest vor. Aber zunächst musste ich mich wieder in die „Außenwelt“ zurückbegeben und weitermachen. Was blieb mir sonst übrig? Ich ging also die Treppe hinunter zur Küche, wo Mrs. Pittney, vor Freude mich zu sehen, völlig aus dem Häuschen geriet. Sie bot mir als erstes etwas zu essen an. Während ich aß, schaute sie mich mit großen Augen an. Vermutlich fragte sie sich, ob ich böse mit ihr sei, weil sie doch schließlich auch Bescheid gewusst hatte. Wenn sie auch vermutlich nicht alle Details kannte.

      Aber ich war ihr nicht böse. Wie auch? Sie war ja in keiner Weise verantwortlich für die Geschehnisse. Vermutlich hatte sie bis vor kurzem gar nichts gewusst. Mr. Wallace hatte sie ja erst eingestellt, als wir in Jefferson angekommen waren. Vorsichtig wie er war, hatte er die wahre Geschichte sicher, bis vor einigen Tagen, niemandem anvertraut. Letztlich hatte er Mrs. Pittney aber doch ins Vertrauen gezogen, sonst hätte sie sich an jenem Abend mir gegenüber nicht so seltsam benommen. Mr. Wallace hatte sie wohl vorwarnen wollen, dass sich mein Verhalten plötzlich ändern könnte.

      Nun jedenfalls war ich doch froh, wieder von ihr umsorgt zu werden aber ich war noch nicht so weit, dass ich sie das auch spüren ließ. Doch wie sollte ich ihr weiterhin böse sein, wenn ich das noch nicht einmal Mr. Wallace gegenüber fertig brachte?

      Ich hatte ihm im Grunde schon verziehen. Nein, … wenn ich es genau betrachtete, gab es gar nichts zu verzeihen. Er hatte so gehandelt, wie andere es in seiner Situation wohl auch getan hätten. Und er hatte versucht, Nachforschungen anzustellen. Er musste davon ausgehen, dass meine Mutter und Derrick tot waren. Meinen Bruder und meine Tante konnte er nicht ausfindig machen. Etters und Thibaut hatten keine Fährte hinterlassen.

      Was mich aber am meisten für Mr. Wallace einnahm, war, dass er sich um mich gekümmert hatte, als wäre ich sein eigenes Kind. Was hatte er denn eigentlich mit mir zu schaffen? Ich war das Kind einer Frau, die er kaum kannte. Auch noch das einer Indianerin. Was auch immer der Grund war, ich war ihm dankbar. Aber das wollte ich vor mir selbst noch nicht wahrhaben, vielmehr wollte ich, dass er noch ein schlechtes Gewissen behielt, weil er mich so lange im Unklaren gelassen hatte.

      Also war ich schweigsam und zurückhaltender, als dies sonst der Fall war. Aber Mr. Wallace und Mrs. Pittney beschwerten sich nicht darüber, sie waren wohl einfach nur froh, dass ich mich nicht weiter in meinem Zimmer verkroch.

      So verging dann einige Zeit, bis ich wieder normal mit den beiden sprach. Wir vermieden aber zunächst, wieder über meine Familie zu sprechen. Mr. Wallace wird vielleicht gehofft haben, dass ich mich mit der Zeit mit den Geschehnissen abfinden und damit nicht weiter belasten würde, aber damit lag er natürlich falsch.

      In all den Wochen, die nun vergingen, beschäftigte ich mich mit Plänen, wie ich die Spuren meiner Angehörigen und die der Verbrecher Etters und Thibaut finden könnte. Mein ganzes Streben ging in diese Richtung.

      Äußerlich ließ ich mir davon nicht viel anmerken. Ich besuchte weiterhin den Unterricht bei Mrs. Smith und versuchte, diese möglichst unbefangen über die Indianer und insbesondere die Stämme im Süd-Westen der Staaten auszufragen, weil auch die Moqui zu diesen Stämmen gehörten. Von jenen wusste sie allerdings nicht sehr viel. Sie kannte die meisten größeren Stämme dem Namen nach und konnte diese, einiger Maßen genau, den Gebieten auf der neuen Landkarte, die in unserem Unterrichtsraum aufgehängt worden war, zuordnen.

      Diese Karte zeigte das Gebiet der Vereinigten Staaten von Amerika nach dem mexikanisch-amerikanischen Krieg, der 1848, also vor ungefähr acht Jahren, mit dem Vertrag von Guadalupe-Hidalgo zu Ende gegangen war. Das Stammesgebiet der Moqui hatte zu der Zeit, als mein Onkel von dort wegging, noch auf mexikanischem Staatsgebiet gelegen.

      Auch wenn ich nicht viel über den Stamm der Moqui in Erfahrung bringen konnte, waren Mrs. Smith‘ Lektionen in Geschichte meine Lieblingsstunden. Hier konnte ich immer wieder Fragen zu den Ureinwohnern, den Indianern, anbringen. Wusste ich doch nun, dass ich selbst ein halber Indianer war.

      Leider war das verfügbare „Wissen“ um die Ureinwohner ausschließlich von Weißen geprägt. Die Bücher zur noch jungen Geschichte der Vereinigten Staaten enthielten vieles über jene Stämme im Osten, mit welchen man zusammen in den Reihen der Engländer und Franzosen oder gegen die man gekämpft hatte. Von diesen Stämmen war inzwischen nicht mehr viel übriggeblieben. Sie waren nach und nach verdrängt, getötet oder assimiliert worden.

      Was man über diese Stämme wusste, waren Berichte von Seiten der Weißen. Nur wenige waren soweit in den Alltag, die Kultur und die religiösen Anschauungen dieser Indianerstämme eingedrungen, so dass man von „Wissen“ zu diesen Themen kaum sprechen konnte. Solches gab es zwar, es wurde aber damals und teilweise auch heute noch nicht für Wert gehalten, verbreitet zu werden.

      Die Siedlungen an der Frontier8, wie das Gebiet an den großen Strömen Mississippi und Missouri genannt wurde, waren noch vergleichsweise jung und ebenso jung wie sporadisch war das Wissen um die Indianerstämme, die westwärts dieser Grenze im Süd-Westen der Staaten, den Great Plains, den Rocky Mountains oder jenseits davon, Richtung Pazifik lebten und umherstreiften.

      Die Landkarte und die von Mrs. Smith angedeuteten Kreise mit den Gebieten, dieser noch weitgehend unbekannten Stämme, prägte ich mir umso mehr ein, als ich sonst wenig darüber in Erfahrung bringen konnte.

      So kam ich auf die Idee, bei Mother Thick‘s Boarding House am anderen Ende der Straße um einen Job zu bitten. Mr. Wallace hatte nichts dagegen gehabt; er kannte die Wirtin seit Jahren und wusste, dass ich dort in guten Händen war. Er glaubte wohl, dass Arbeit die richtige Ablenkung für mich war. Schließlich konnte er ja nicht wissen, dass ich vor allem dorthin wollte, weil ich hoffte, dort mehr über die Indianer und die Gebiete zu erfahren, in die mich meine „Expedition“ unweigerlich führen musste.

      „Mother Thick‘s“ beherbergte immer wieder Leute, die von westwärts der Frontier kamen oder im Begriff standen, diese dorthin zu überqueren.

      Es wurde da immer eine ganze Menge erzählt und besonders lebhaft und interessant ging es zu, wenn sich Prairiemänner und Jäger dort wiedertrafen. Es wurden dann die neuesten Geschichten aus dem noch reichlich unerforschten und damals noch vom Weißen Mann weitgehend unberührten Indianerland ausgetauscht.

      Mrs. Thick war eine rundliche Dame Mitte vierzig, die ihr Schankhaus ordentlich führte und ein Herz für Ihre besonderen Gäste hatte. Allerdings zog ein Wirtshaus hier an der Grenze zum Indianerland auch einiges Gesindel an. Wenn es also mal etwas rauer zuging, stand sie resolut ihren „Mann“ und sorgte schnell für Ruhe. Rowdies mussten außerdem immer damit rechnen, dass Gesellen anwesend waren, die es leicht mit ihnen aufnehmen konnten, so dass sie schnell „den Kürzeren zogen“. So blieb es deshalb meist anheimelnd in der Gaststube.

      Ich hatte es also geschafft, eine weitere Informationsquelle zu erschließen. Nach dem Unterricht bei Mrs. Smith ging ich nun immer erst nach Hause, um dort zu essen und gelegentliche Hausaufgaben zu erledigen. Nachmittags, ab fünf Uhr, fand ich mich bei Mrs. Thick ein, um dort auszuhelfen, wo immer gerade eine Hand gebraucht wurde. Da sie mich für meine Arbeit auch gut bezahlte, konnte ich mir ein schönes finanzielles Polster schaffen.

      Inzwischen musste ich auf mein Vorhaben zurückkommen, Mr. Wallace zu bitten, noch einmal Nachforschungen zu meiner Familie in Taos zu veranlassen. Vielleicht hatten sich meine Mutter oder Derrick ja doch noch nach unserem Verbleib erkundigt und jemand konnte sich an diese Erkundigungen erinnern.

      Dann hätte ich den Beweis, dass sie noch lebten und vielleicht auch einen Anknüpfungspunkt für spätere Nachforschungen nach dem Verbleib der beiden oder dem meines Bruders und meiner Tante.

      Als ich also an diesem Abend nach Hause kam, fragte ich Mrs. Pittney gleich, ob Mr. Wallace heute Abend pünktlich sein und das Abendessen mit mir einnehmen würde. Sie bejahte und ich sah ihr an, dass sie sich nun sorgte, ich könnte


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