Flug in den Weltraum. Dominik Hans
Dr. Thiessen den Satz, »das wollen Sie doch damit sagen, Kollege.«
Dr. Stiegel nickte. »Allerdings, Herr Thiessen. Das ist meine Meinung.«
»Nun trinken Sie erst mal ein paar Schluck kaltes Wasser, und setzen Sie sich, mein lieber Stiegel.« Thiessen sprach zu seinem Assistenten wie zu einem Kranken, dem man gut zureden muß, und drückte ihn auf einen Stuhl nieder. »So! Und nun versuchen Sie mal fünf Minuten logisch zu denken. Die Sache ist doch so. Wenn ich von hier aus mit einer Kanone eine Kugel bis nach den Bänken schießen will, dann muß ich das Kanonenrohr unter einem ziemlich großen Winkel nach oben richten. Ich muß ihm, wie die Artilleristen es machen, eine gewisse Elevation geben. Das berühmte Ferngeschütz des Weltkrieges hatte eine Elevation von 55 Grad und schoß über 130 Kilometer. Wie denken Sie sich die Geschichte nun, wo der Schuß über fünftausend Kilometer gehen soll?«
Thiessen wartete vergeblich auf eine Gegenäußerung. Es war offensichtlich, daß seine Ausführungen Dr. Stiegel in Verwirrung gebracht hatten und er die richtige Antwort nicht sogleich zu finden vermochte.
»Bedenken Sie auch, welche Geschwindigkeit für einen solchen Schuß notwendig wäre«, fuhr Thiessen fort. »Das Geschoß jenes Ferngeschützes verließ das Rohr mit einer Sekundengeschwindigkeit von zwei Kilometer, was einer Stundengeschwindigkeit von 72 000 Kilometer entsprechen würde.
»Halt, Herr Doktor Thiessen«, kam Hegemüller Stiegel zu Hilfe, »jetzt begehen Sie selbst einen Denkfehler!«
»Wieso, Herr Hegemüller?« unterbrach ihn Thiessen scharf.
»Weil Sie unberücksichtigt lassen, daß sich unsere entflogene Kathode nicht wie eine Kanonenkugel, sondern wie eine Rakete bewegt. Ihre Flugbahn gehorcht anderen Gesetzen.«
»Doch ist sie ebenso der irdischen Schwerkraft unterworfen wie die Kanonenkugel«, warf Thiessen ein.
»Aber die Rakete kann der Schwerkraft in ganz anderer Weise und viel erfolgreicher entgegenwirken als eine Kanonenkugel«, rief Dr. Stiegel, der sich inzwischen gesammelt hatte; »einmal abgeschossen, ist die Kanonenkugel ein willenloses Objekt, während die Rakete während ihres Fluges unaufhörlich wie eine Maschine weiterarbeitet.«
»Natürlich tut sie das!« rief Hegemüller, »für eine Rakete – und unsere Kathode war eine Rakete – ist ein Flug von hier bis zu den Fundland-Bänken überhaupt nur ein Katzensprung. Die hätte gleich bis zum Mond fliegen können . . .«
»Hegemüller, Sie sollten etwas gegen Ihren Zustand einnehmen«, riet ihm Thiessen.
»Aber die Kugel ist ja wieder aus dem Atlantik aufgetaucht. Wir werden vielleicht noch weiter von ihr hören«, verteidigte Hegemüller seinen Standpunkt. Immer lebhafter platzten die Meinungen der drei aufeinander, bis Thiessen nach einem Blick auf die Uhr der Debatte ein Ende setzte.
»Schluß jetzt, meine Herren, mit dem zwecklosen Streit. Wir wollen an unsern Versuch gehen.«
Die Anordnungen für das zweite Experiment waren die gleichen wie für das erste mit dem einzigen Unterschied, daß die Schleudergrube nach oben hin geschlossen wurde. Bevor Dr. Thiessen die Hochspannung einschaltete, ließ er die Elektromotoren angehen, welche die zweiteilige schwere Panzerkuppel von beiden Seiten her über die Grube schoben. Danach verlief fast alles so wie das letzte Mal. Nach einer gewissen Anzahl von Minuten fiel der Stromzeiger plötzlich auf Null; fast im gleichen Augenblick aber drang von draußen her ein dumpfer Klang in den Schaltraum. Die Panzerkuppel erdröhnte, als ob eine Riesenfaust dagegengeschlagen hätte.
»Diesmal ist der Vogel gefangen«, sagte Thiessen, als der Lärm verklungen war.
»Den Brocken haben wir sicher!« schrie Hegemüller, machte einen Freudensprung und wollte ins Freie hinauseilen. Thiessen hielt ihn zurück. »Ruhe, Kollege! Erst überlegen, dann handeln!« Er nahm einen Zeichenblock und entwarf eine Skizze der Schleudergrube, während er weitersprach.
»Die Kathodenkugel ist nach oben gegen die Schutzkuppel geflogen, das dürfen wir nach dem Krach, den wir hörten, mit Sicherheit annehmen. Weiter ist zu vermuten, daß sie infolge der Rückstoßkraft ihrer Strahlung mit großer Gewalt nach oben gegen die Kuppel drückt. Wenn sie nun gerade auf der Linie sitzt, wo die beiden Kuppelhälften zusammenstoßen . . . sehen Sie hier, meine Herren«, Thiessen deutete auf seine Skizze, »dann geht sie uns unweigerlich durch die Lappen, wenn wir die Kuppel öffnen.«
Die Beweisführung wirkte so überzeugend, daß keiner der beiden anderen etwas dagegen sagen konnte.
»Ja, aber schließlich werden wir die Kuppel doch einmal öffnen müssen«, meinte Dr. Stiegel nach einigem Überlegen, »auf andere Weise können wir an das Ding ja nicht 'rankommen.«
»Man müßte die beiden Kuppelhälften nur ganz wenig auseinanderziehen«, schlug Dr. Hegemüller vor, »nur so weit, daß etwa ein zollbreiter Schlitz entsteht. Wenn man den Schlitz dann mit einer Stange abtastete, müßte man auf die Kugel stoßen, wenn sie gerade an der Stelle sitzt.«
»Richtig, mein lieber Hegemüller!« Thiessen klopfte Dr. Hegemüller lachend auf die Schulter. »Sie haben die Sache wieder mal richtig erkannt. So wollen wir es machen.«
Er trat an den Motorschalter, während Hegemüller und Stiegel die Baracke verließen und auf die Schutzkuppel kletterten.
»Rufen Sie, sowie der Spalt einen Zoll breit ist«, befahl Thiessen und ließ den Motor ganz behutsam angehen.
»Halt! Stopp!« schrie es von draußen, und er setzte die Maschine sofort wieder still und ging dann ebenfalls ins Freie.
»Ich sehe die Kugel«, rief ihm Hegemüller schon von weitem entgegen, »genau auf dem Spalt sitzt sie und am höchsten Punkt der Kuppel.«
Mit ein paar Sprüngen war Thiessen bei ihm und überzeugte sich von der Richtigkeit seiner Beobachtung.
»Ja, was nun«, begann Dr. Stiegel zögernd. »Wenn wir die Kuppel weiter öffnen, saust der Brocken ab . . . Gott weiß wohin in den Weltraum.«
»Ruhe, Ruhe, Herrschaften!« beschwichtigte ihn Thiessen. »Erst raten, dann Taten.«
»Man könnte vielleicht versuchen, die Kugel mit einer kräftigen Eisenstange an dem Schlitz entlangzuwälzen«, gab Hegemüller seine Meinung kund. »Nach einer halben Umdrehung müßte sie dann auf den Boden der Grube abstürzen . . .«
»Und in der Grube allerlei unkontrollierbaren Unfug verüben«, unterbrach ihn Thiessen. »Außerdem hätten wir dann noch die Arbeit, sie wieder nach oben zu schaffen. Nein, mein lieber Hegemüller, das muß auf eine andere Weise gemacht werden. Wir wollen's uns in aller Ruhe überlegen.«
In stundenlanger Beratung saß Dr. Thiessen mit seinen beiden Assistenten zusammen. Pläne wurden gemacht und wieder verworfen, bis sie endlich das Richtige gefunden zu haben glaubten. Der Chefingenieur Grabbe mußte hinzugezogen werden, weil sie für das, was sie beabsichtigten, Apparaturen und Vorrichtungen benötigten, die in anderen Abteilungen des Werkes hergestellt werden mußten. Mehrere Tage verstrichen, bis alles vorbereitet war, dann endlich konnte der Plan zur Ausführung kommen.
Ein engmaschiges Netz aus daumenstarken Drahtseilen, das in vier mächtige Stahltrossen auslief, wurde an der Stelle, wo die Kugel saß, über den Kuppelschlitz gelegt. Zu vier kräftigen Motorwinden führten die Trossen; auf Betonblöcken waren die Winden unverrückbar verankert.
»Damit werden wir's sicher zwingen«, meinte Dr. Thiessen zuversichtlich.
»Ist auch unbedingt nötig!« unterstrich Grabbe die Bemerkung Thiessens. »Ein zweites Mal darf uns so ein Brocken nicht entkommen. Der erste hat schon genug Malheur in der Welt angerichtet. Wenn die Leute in USA um die Wahrheit wüßten, könnte unser Werk am Ende noch allerlei Schornsteine und Dächer bezahlen.«
Thiessen schaltete die Motoren ein; langsam gingen die Kuppelhälften Zoll um Zoll auseinander. Vier Augenpaare blickten gespannt nach der Kuppel hin. Nur ein leises Dröhnen der gewaltigen, durch Motorkraft bewegten Stahlmassen war vernehmbar, doch dann plötzlich ein hartes Scharren, wie wenn