MarChip und die Klammer der Angst. Esther Grünig-Schöni
Wieder schauderte es ihn. Chip begann in seinen umnebelten Gedanken zu ahnen, mit wem er es zu tun hatte. Das war nicht beruhigend. Diesmal lachte der Kerl nicht. Er schien sich in seine Wut hinein zu steigern. „Du bist schuld. Darum bist du hier! Du hast mir Emily entfremdet, sie mir genommen. Du hast unterbrochen, was auf gutem Wege war.“
Die Ahnung wurde gewisser. „Du hast sie wieder stark werden lassen. Du hast damit angefangen. Sag nicht, sie war das alleine. Nein! Du warst es. Du hast ihr ihren Willen zurückgegeben und sie meiner Kontrolle entzogen. Sie ist für mich verloren. Dafür nehme ich dir alles. Du wirst es büßen. Ich bestrafe dich und du wirst es bedauern, dich eingemischt zu haben.“
Daher wehte der Sturm. Das also war dieser Unbekannte. Das war der, der Leute verschwinden ließ. Es wurde ihm klar. Es war der, der tötete und jemanden fürchterlich zurichtete, der … Nun zischte er es. „Leiden! Schmerzen! Angst vor jedem kleinen Geräusch, vor jeder Minute, vor jeder Stunde, vor jedem neuen Tag und den Überraschungen der Nächte! Angst vor jedem kleinen Flüstern, vor jedem Wort, vor der Stille, vor jedem Lichtschimmer, der in den Raum fällt, wirst du haben! Angst für dich! Befriedigung für mich!“
„Aus welchem Irrenhaus bist du denn entwichen? Was für ein perverser Spinner bist du?“ krächzte er endlich aus seinem trockenen Mund, aus der kratzenden Kehle. Ein scharfer Schlag auf seinen Rücken ließ ihn sogleich nach Luft schnappen. Ketten klirrten.
Ketten? Himmel nochmal! Schwere Ketten. Sie mussten an ihm sein. Er riss die Augen endlich gewaltsam auf und stöhnte vor Schmerz, weil das Licht wie ein Messer direkt in seinen Kopf einzudringen schienen. Aber er musste sehen, was hier los war. Er musste sich endlich orientieren. Und eigentlich hatte er überall Schmerzen. Nun war er ganz wach, spürte alles, roch alles und sah. Was er sah, war unschön. In diesem Moment wünschte er sich den Dämmerzustand zurück. Doch sein Überlebenswillen und der Bewegungsdrang gewannen die Oberhand. Er war keiner, der sich in ein Schicksal ergab. Oh nein! Das hier gab es doch einfach nicht. Es musste ein Albtraum sein.
Schmutz war das erste, das offensichtlich war; kahle Stein- und Betonwände, Gitterstäbe, Eisen, in der Höhe, sehr weit oben ein kleines vergittertes Licht. Es sah nach Keller aus und doch nicht. Ein Lagerraum, der etwas tiefer lag. Wo war er gelandet? Es stank. Er wollte sein Gesicht berühren, aber er kriegte seine Hände nicht da hin. Sie wurden gehalten. Von Ketten? Ja, er war auf eine perfide Art angekettet. Er hatte Eisen an den Handgelenken, und er spürte sie auch an den Fußgelenken. Auf diese Weise hing er an straffen Ketten in der Mitte eines … Käfigs. Wut packte ihn. Einer wagte, so etwas mit ihm zu machen? Darum war er aufrecht weggedämmert.
Über ihm und unter ihm, soweit er das sehen konnte, waren Eisenringe in die Decke und in den Boden eingearbeitet. Er war in Ketten hilflos allem ausgeliefert. Himmel nochmal, so etwas konnte man mit ihm nicht machen! Die Wut darüber überdeckte alle Schmerzen. Er versuchte, an sich herunter zu sehen. Das ging aber nur eingeschränkt. Er hatte außer seinem Slip nichts mehr an. Auf seiner Haut verteilt sah er jede Menge an Striemen. Keine Wunden, aber sonst eindrückliche Blutergüsse. Kein Wunder, dass ihm alles wehtat. Er versuchte, seine Erinnerung in Gang zu bekommen. Noch gelang es nicht richtig. Zum Donnerwetter! Er regte sich auf. Er zerrte an diesen verflixten Ketten, wütend, kräftig, versuchte es immerhin und kriegte nochmal eins ab. Der war immer noch da. Wieder lachte er – boshaft vergnügt. „Genau. Nun hast du es erfasst. Das ist deine Lage, deine Situation, in der du dich befindest, Fabien Voizinet!“
Die Erinnerung daran, wie er überwältigt worden war, kam zurück. Aus Tropfen wurde ein Strom. Das hier lief eindeutig falsch. Vorerst war er mehr als dumm dran. Erst einmal abwarten, seine Kräfte und das volle Bewusstsein wiederfinden und mit diesem dann Fluchtmöglichkeiten erkunden. In Ruhe, nicht hektisch unüberlegt, was meist zu keinem Ergebnis führte. Erst wenn er wieder dazu fähig war. Für alle Ewigkeit konnte der ihn nicht so hängen lassen. Oder doch? All seine tollen Pläne konnte sich der Kerl sonst wo hin stecken oder schmieren. Mit ihm nicht auf so eine Weise. „Also Junge, erst mal ruhig bleiben, nachdenken, Lage genauer peilen, beobachten. Handeln, sobald es erfolgreich geht“, sagte er zu sich selbst. Er war kein harmloses Lamm.
Er tat so, als ergebe er sich vorerst. Weitere Optionen hatte er nun ja nicht, so wie er es einschätzte und um in dem Ton zu bleiben, wie sich der Irre ausdrückte. Ein Studierter? Ach, das konnte ihm doch egal sein, selbst wenn der einen Hochschulabschluss hatte. Mann oh Mann. Nein, das stimmte nicht. Er musste auf alles achten. Und so hörte er auch, dass der sich entfernte, hörte seine Schritte, während er die kahlen Wände ansah. Es schloss sich jedoch keine Türe. Ganz los war er ihn vermutlich nicht. Auf einmal spürte er, dass die oberen Ketten gelöst wurden. „Ein Mechanismus außer Reichweite also.“
Seine Situation war echt beschissen. Er konnte sich nicht auf den Beinen halten. Wie er merkte, hatte er kaum Kraft in sich. Er fiel dem Boden entgegen. Auch das war schmerzhaft. Und so konnte er ein Aufstöhnen nicht verhindern. Er blieb zusammengekrümmt auf einer Seite liegen. Es war ihm speiübel und er bekämpfte als erstes den Würgedrang. Er wollte dem Kerl nicht den Gefallen tun zu kotzen. Vermutlich machte der Kreislauf schlapp. Es gab an ihm keine einzige Stelle, die nicht schmerzte. Er versuchte ruhig und tief durchzuatmen. Auch die Ketten an den Füssen hatten sich gelockert. Er bewegte einen Fuß nach dem anderen, die Arme. Es schien nichts gebrochen zu sein. Diesmal bellte die Stimme einen Befehl. „Bleib genauso! Wage es nicht, dich umzuschauen!“
Chip reagierte automatisch mit dem Gegenteil. Er war noch nie williger Befehlsempfänger gewesen. Diesmal hätte er es wohl doch besser beachten sollen. Ein paar kräftige Hiebe hintereinander trafen ihn. Tränen traten ihm in die Augen. Wut über diese Behandlung, über die Hilflosigkeit und der Schmerz selbst lösten das aus. Allmählich war es genug. Wieder dieses böse Lachen.
Beinahe gleichzeitig legte der Kerl sage und schreibe eine Decke über ihn und entfernte sich wieder. „Ruh dich aus. Ich will, dass du bei Kräften bleibst. Wenn du schon jetzt schlapp machst, habe ich nichts davon.“
Wie gnädig. Nein, es war nicht gnädig. „Ich will mich nicht mit einem Halbtoten beschäftigen. Das macht mir keinen Spaß. Ich will noch lange meinen Spaß. Du hast in dem Käfig hier alles was du brauchst. Alles außer deiner Freiheit!“ Gackerndes Lachen.
„Solange du so störrisch bist wie dich alle kennen – und ich liebe es, wenn du das bist und bleibst – solange du so schön ungezogen bist, bleiben die Ketten dran. Bei dir gehe ich kein Risiko ein. Ich weiß wie stark du bist. Nicht nur körperlich. Doch ich verspreche dir, ich finde deine Schwachstellen, egal wie lange das dauert. Hier in deinem Bereich kannst du dich trotz der Ketten frei bewegen. Lerne und es wird für dich einfacher. Bleib stur und es wird schwerer. Deine Entscheidung. Obwohl – sicher sein kannst du dir nicht. Nie. Wenn ich es mir anders überlege, töte ich dich. Vielleicht ja, vielleicht nein. Und wenn: schön langsam.“ Er lachte wie über einen gelungenen Witz. Chip hatte keine Lust mitzulachen.
„Ich genieße es doppelt, wenn du nicht lernst.“ Endlich verschwand er und diese hirnverbrannten Reden hatten ein Ende.“
Nach einer Weile versuchte sich Chip etwas zu drehen und sich aufzurichten. Der Boden war kalt und rau. Die Schmerzen verhinderten vorerst Weiteres. Sein Kreislauf normalisierte sich nur sehr langsam. Bei der geringsten Bewegung schnappte er nach Luft. Da war er in eine mehr als dumme Lage geraten. Das musste dieser Unbekannte sein, von dem Emily geredet hatte. Es war mit Sicherheit der Irre, der für das Verschwinden einiger verantwortlich war und für die schlimmen Verletzungen von Roberto, für all die perversen Grausamkeiten. Und er war nun ausgerechnet dem hilflos ausgeliefert. Keine schöne Aussicht.
Leider hatte ihr lange niemand geglaubt, es als Hirngespinst und Verfolgungswahn abgetan. Mit der Zeit hatte ja Emily selbst geglaubt, es könnte ihren Ängsten entsprungen sein. Sie zweifelte schnell an sich. Doch das hier war sehr real. Es lief gründlich schief. Er hatte der jungen Frau geglaubt, sie ernst genommen, sie dadurch etwas stärken können. Das warf der Kerl ihm