MarChip und die Klammer der Angst. Esther Grünig-Schöni
davon zu rennen. Sie wurde noch weißer und er war froh, als sie draußen ankamen.
Einen Moment würgte es sie, doch sie konnte es unterdrücken, setzte sich auf die Bank, die er ihr zeigte und versuchte ruhig und tief zu atmen, ohne sich dabei übergeben zu müssen. Sie wünschte sich in ihre vier Wände, in die Sicherheit ihres Zuhauses, aber sie musste auf Moni warten. Sie konnte Moni nicht hier lassen. Sie schloss einen Augenblick die Augen, war nicht weit von einem Zusammenbruch entfernt. Das aber hätte Rückschritt bedeutet. Es durfte nicht geschehen. Es kostete sie all ihre Kraft, der Panik nicht Raum zu geben. Sie dachte an die Übungen für solche Fälle. Er sah, dass es zu helfen schien. Schließlich bekam er das Gefühl, sie alleine lassen zu können.
„Ich gehe Moni suchen. Warte bitte hier auf uns. Okay?“ Sie schämte sich für ihre Panik, für all das, was ihr das Leben schwer machte. Es gab ihr das Gefühl, zu versagen, nichts wert zu sein. Dass es nicht so war, musste sie sich immer und immer wieder selbst einreden, damit sie Boden gewann. Sie nickte und er ging ins Kaufhaus.
Er ging zu der Stelle, wo er sie gesehen hatte, überlegte sich, was ein kleines Mädchen interessieren mochte und sah nicht sehr weit entfernt das Schild zu den Spielwaren. Das konnte es sein. Er ging zu den Regalen. Und in einer der Schluchten fand er ein Kind, das zu der Beschreibung passt und alleine zu sein schien. Er näherte sich vorsichtig, ging vor ihr in die Hocke, so dass er auf Augenhöhe mit ihr war und fragte sie freundlich. „Bist du Moni? Heißt du so?“
Sie sah ihn kurz an, schwieg, wandte sich wieder dem Regal zu. Es war das mit den Puppen unterschiedlicher Größe und Arten und eine ganze Reihe von Barbies. „Die gefallen dir was? Welche davon denn am meisten?“
Die Kleine streckte den Finger aus und zeigte auf eine Prinzessin-Barbie. Sie hörte ihn also, sie reagierte sogar. „Du willst nicht mit mir reden?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich sehe es. Aber Zeichen geben magst du. Dann habe ich eine Idee. Wir machen das so. Ich frage dich etwas und du nickst oder schüttelst den Kopf. Geht das so in Ordnung?“
Sie nickte. Er schmunzelte und die Kleine runzelte die Stirne. „Nein, ich lache dich nicht aus. Ganz bestimmt nicht. Bist du Moni?“ Nicken. „Weißt du, wo deine Mama ist?“ Sie sah sich um, hierhin und da hin und schüttelte dann den Kopf. Sie bekam traurige Augen, sah sich wieder um, wieder ihn an. Ihre Augen bekamen einen feuchten Glanz. Er setzte sich einfach vor ihr auf den Boden. „Ganz ruhig Moni. Alles gut. Hör zu. Deine Mama sucht dich. Bist du schnell zu den Puppen gelaufen, weil du sie magst?“ Sie nickte, schaute sich wieder um, und eine Träne rann über ihr Gesicht.
„Nein, nein, nicht weinen. Sie macht sich Sorgen, ist nicht böse auf dich. Ich bringe dich zu ihr hin, dann ist alles wieder gut.“ Sie schüttelte den Kopf und begann nun richtig zu weinen. Oh je, was nun? „Du willst nicht?“ Wieder ein Kopfschütteln. „Was können wir da tun?“ Er streckte seine Hand aus, aber sie wich einen Schritt zurück. „Ich glaube, wir haben ein Problem. Ich weiß wo sie ist. Komm …“ Kopfschütteln. „Sie kann nicht zu dir kommen. Die vielen Leute machen ihr zu sehr Angst. Es geht ihr nicht gut.“ Sie nickte. Er musste sich etwas einfallen lassen. Er konnte und wollte sie nicht einfach unter den Arm klemmen. Erstens war das bei einem Kind nicht seine Art und zweitens wurde er am Ende wegen Entführung verhaftet. „Was tun wir?“
Moni zuckte die Schultern. Er lächelte. „Sehe ich für dich böse aus?“ Sie musterte ihn und schüttelte den Kopf. „Na immerhin. Aber du magst weder mit mir reden noch mit mir gehen.“ Er kratzte sich ratlos am Kopf. „Mama sagt, ich soll nicht.“ Sofort schlug sie sich mit ihrer kleinen Hand vor den Mund und schaute ihn erschrocken an. Chip schmunzelte. „Keine Angst, ich verrate dich nicht. Aber ich bringe dich zu ihr.“ Das wollte sie nicht.
„Aber sie möchte dich gerne bei sich haben. Und du willst doch bestimmt auch zu ihr. Kennst du dich hier aus? Nein.“ „Ich soll ohne Mama nicht mit Fremden reden und mit keinem mitgehen. „Das ist auch gut so. Da fällt mir eine Lösung ein. Ich gehe auf meinen Händen vor dir und du kommst hinter mir her.“ „Auf den Händen? „Ja. So gehst du nicht mit mir mit und ich geh ja auch nicht richtig. So finden wir zu deiner Mama und alles wird wieder gut. Was meinst du?“ Sie lachte. Das ging bei Kindern schnell in die eine oder andere Richtung. Es schien ihr zu gefallen. Sie nickte eifrig. „Gut. Aber bleib schön hinter mir und verlier mich nicht.“
Sie schaute ihm erstaunt zu. Er kontrollierte erst, ob niemand hinter ihm im Wege stand oder getroffen werden konnte, machte einen halben Überschlag. Mit diesem kam er auf seine Hände zu stehen, balancierte kurz mit den Beinen aus und los ging es auf diese unkonventionelle Weise.
So kamen sie bei der jungen Frau an, die ihr Kind erleichtert in die Arme schloss und sein Tun erstaunt musterte. Er stellte sich mit einem Schwung wieder ordentlich hin und blinzelte der Kleinen verschwörerisch zu. Einige, die beobachtend da gestanden hatten, applaudierten sogar. Schließlich setzte er sich zu den beiden auf die Bank. Die junge Frau sah ihn mit ihren hellblauen Augen an. „Danke." „Gerne geschehen. Sie hat sich übrigens daran gehalten. Sie ist nicht mit einem Fremden gegangen. Der latschte, wie du sehen konntest, auf den Händen und sie ist vorsichtig hinter her.“ Er lachte.
Nun lächelte sie und in ihren Augen erschienen kleine Sterne. „Ich bin Emily. Danke für deine Hilfe. Ein wenig verrückt bist du schon oder?“ „Nein. Nicht ein wenig.“ Er lachte wieder. „Sehr verrückt bin ich. Ist die Angst etwas abgeklungen? Sie war groß.“ „Ja.“ Sie verschloss sich gleich wieder. Doch die Kleine verhinderte, dass es ganz geschah. Sie fragte mit einem Seitenblick zu Chip. „Mama, ist er noch ein Fremder?“ Diesmal wurde er von ihnen beiden ausgiebig betrachtet. Emily schüttelte nach einer Weile den Kopf. „Nein Moni. Ich denke, Chip ist in Ordnung. Du darfst mit ihm reden.“
Er deutete eine elegante Verbeugung an und grinste. Doch Moni war nun sehr ernsthaft. Chip hatte sich gerade selbst gefragt, ob er das war, was Emily gesagt hatte. Moni erklärte ihm: „Weißt du, Mama hat manchmal ganz große Angst. Wenn ich kann, helfe ich ihr, dass es nicht zu schlimm ist. Wir haben uns lieb. Bitte schimpf nicht mit ihr. Sie ist nicht … Sie muss deswegen nicht von mir weggebracht werden. Manche sagen solche Dinge, aber das ist nicht wahr. Und ich will bei Mama bleiben. Ich will nicht zu anderen Leuten. Mama ist lieb zu mir.“
Chip war durch diese paar Sätze, die über ihre Ängste, den Alltag und die Leute um sie her viel aussagten, betroffen. Er sah die Verlegenheit von Emily, aber ging auf das Kind ein. „Da gibt es nichts zu schimpfen. Ich denke so wie du darüber.“ „Viele schimpfen und sagen gemeine Dinge. Dann muss Mami weinen. Das will ich nicht und ich bin böse auf diese Leute.“ „Ach Moni, wer das tut, weiß nicht viel und versteht nichts vom Leben.“ Sie nickte. Er redete nicht so dumm mit ihr wie manche meinten, es mit einem Kind tun zu müssen. Er sah Emily an, die auf ihre Schuhe starrte, ihn nicht mehr ansehen konnte. Es machte sie verlegen, aber sie ließ das Gespräch zu.
„Mich müsste man viel eher wegsperren als deine Mama.“ Er lächelte, weil sie ihn erschrocken ansah und wandte sich an Emily. „Du erträgst zu viele Menschen um dich her nicht?“ „Ja, und mehr“, kam es nur leise „Und damit zeigst du doch viel Mut und Kraft. Du gehst in einen Laden, trotz deiner Ängste.“ „Du hast ja gesehen wie mein Versuch endete.“ Ihre Stimme klang wie die eines im Netz gefangenen Vogels.
„Eine Ausnahmesituation, weil die Kleine auf einmal weg war. Das hat dich einen Moment überfordert. Das würde doch jeder Mama so gehen.“ Sie sah auf den Boden. „Ja … Ich … muss doch. Für Moni. Für sie tu ich alles, selbst wenn es manchmal sehr schwer fällt oder kaum geht. Sie ist alles, was ich habe. Sie muss Kind sein können.“
In dieser Antwort war so viel Liebe und Verzweiflung enthalten, dass es ihn berührte. Da sie einander nicht kannten, ging er jedoch nicht weiter auf ihre Probleme ein. Er wollte nicht aufdringlich erscheinen. Er mochte so etwas auch nicht. Aber er sah, wie müde sie war. Es hatte sie sehr angestrengt. „Soll ich euch nach Hause begleiten?“ Sie zögerte nur kurz. „Das würdest du tun?“ „Ja. Wenn du mir genug vertraust und du es noch einen Moment hier aushalten kannst. Ich beende schnell meine Einkäufe, lade sie in meinen Wagen und gehe dann mit euch.“ „Wir warten.“
Chip eilte hinein.