MarChip und die Klammer der Angst. Esther Grünig-Schöni

MarChip und die Klammer der Angst - Esther Grünig-Schöni


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da wieder rauskommen und zwar lebendig. Was auch immer ihm bisher begegnet war, in welche Situationen er geraten war, er hatte immer Auswege gefunden. Einfach hinnehmen kam für ihn sowieso nicht in Frage. Aber wie fing er es an? Wenn er seine Lage analysierte, fand er darauf noch keine Antwort. Welche Möglichkeiten gab es und welche Strategien versprachen Erfolg? Zuerst musste er wieder einigermaßen auf den Beinen sein, bevor er auch nur fähig war, Pläne zu schmieden.

       Sein Denkvermögen war in seinem jetzigen Zustand zu eingeschränkt. Er war zu erschöpft, um Lösungen seines Dilemmas zu finden. Seine Kraft brauchte er, um die Schmerzen zu ertragen. Und dabei hatte alles so harmlos begonnen.

      Die Fortsetzung der Geschichte mutierte allerdings zur Hölle. Voraussehen hatte er das nicht können. Er erinnerte sich wieder an den Unfall – eher ein Überfall – der ihn in diesen Käfig gebracht hatte. Er hatte keine Chance gehabt. Er war nicht unvorsichtig gewesen, wie es manchmal vorkam. Voraussehen war in dem Fall nicht möglich gewesen - auch nicht während des Geschehens etwas Gescheites dagegen zu unternehmen.

      Mit seinem Motorrad war er unterwegs nach Hause gewesen. Nichts Außergewöhnliches vorgefallen. Wie aus dem Nichts, aus einem unscheinbaren Feldweg heraus, war ein Kastenwagen geschossen gekommen. Auch wenn Chips Reflexe gut waren und das allerschlimmste verhindert hatten, auch wenn er verstand zu fallen, hatte es ihn erwischt. Er erinnerte sich an das Aufheulen eines Motors, an keine Bremsgeräusche. Nun wusste er ja, dass es Absicht gewesen war. Auch wenn er etwas ausgewichen war, hatte ihn ein Stoß erwischt und er war hin geschliddert. Einer stieg aus. In dem kleinen Moment, in dem er noch belämmert war und geglaubt hatte, dass der nach ihm sehen wollte, um ihm zu helfen und er selbst sich seelisch vorbereitete, dem Kerl die Meinung zu seiner Fahrweise zu sagen und er die Maskierung wahrnahm, schwante ihm zwar Unheil, aber es war zu spät. Er kriegte eins über den Schädel. Womit sah er nicht und tauchte weg.

       Als er in dem Kastenwagen zu sich kam, gefiel ihm das alles gar nicht mehr und er versuchte sogleich, da hinaus zu kommen. Doch ehe er richtig da war und im Vollbesitz seiner Kräfte, hielt der Blödmann schon an. Er fesselte ihn trotz Gegenwehr. Alles ging zu schnell oder er war zu langsam in seinen Reaktionen. Der Kerl trug eine Vollmaske und dunkle Kleidung – diesen schwarzen Overall, den er noch immer trug – war sehr groß und schien kräftig zu sein. Chip sah nur seine Augen glitzern. Seine Karten waren schlecht. Der sprach da noch kein Wort im Gegensatz zu später, wo er mit seinen Reden kaum noch aufhören konnte.

       Als erstes wurde er, irgendwo angekommen, in eine Halle gesperrt. Es schien eine alte verlassene Fabrikhalle zu sein, in der allerlei Unrat und Überreste lagen. Stapel alter Fässer und Kisten, schiefe Regale mit deutlichen Rostspuren an den Metallen. Metallteile die herumlagen oder auf einen Haufen geworfen worden waren. Zerschlagene Fenster, zum Teil mit Pappe ersetzt. Eisenarmierungen, die aus eingebrochenen Mauerstücken ragten. Es war kein gemütlicher Ort. Der lag schon eine Weile brach.

       Da wurde er festgebunden und der Kerl schlug immer wieder auf ihn ein, bis er das Bewusstsein verlor. Als er erneut daraus erwachte, rammte der ihm eine Spritze in den Körper. Chip tauchte vollständig ab.

       Das Endresultat von alldem war seine momentane Lage. Er hatte diese Gefahren nicht kommen gesehen, obwohl er es sich nach allem was geschehen war, hätte denken können. So ein Mist aber auch! Ließ er nach? Mit all diesen Gedanken schlief er auf dem kahlen Boden erschöpft ein.

      2. Emily

      Da stand er in dem Baumarkt und sah sie über die Liste hinweg - eine junge Frau mit dunklen Haaren, die sich lockig bis über die Hälfte ihres Rückens kringelten.

      Daran war nichts Außergewöhnliches und wäre ihm nicht weiter aufgefallen, wenn er nicht bemerkt hätte, wie sie da stand. Angespannt von Kopf bis zu den Füssen, wie gelähmt, unbeweglich und doch zitternd. Sie schien voller Angst. Auch ihre weit aufgerissenen starren Augen zeigten es. Sie stand da zwischen den Regalen, und er versuchte heraus zu sehen, was sie so verschreckte. Er fand nichts. Sie wurde wie von einer unsichtbaren Macht festgehalten. Es musste vor allem in ihrem Inneren stattfinden. Sie war schneeweiß im Gesicht und konnte sich offensichtlich nicht von der Stelle rühren. Es war mehr als Angst. Sie war in Panik. Der Grund war für ihn nicht ersichtlich. Aber die Angst schien real. Er fragte sich, ob er etwas unternehmen sollte oder nicht. Er betrachtete sie. Manche begannen zu schreien, toben, andere mussten sich übergeben oder alles zusammen. Sie war wie gelähmt. Sie stand da, stumm, gefangen in ihrer Angst. Oft wurde so etwas mit Hysterie abgetan und mit mehr oder weniger gescheiten Sprüchen kommentiert, die nichts verbesserten.

      Er konnte die junge Frau nicht einfach ihrem Schicksal überlassen und so tun, als wäre nichts weiter. Er musste versuchen, den Bann zu brechen. Vielleicht nach draußen helfen? Sie schien allein zu sein. Nein, er konnte sie nicht übersehen.

      Leute huschten an ihr vorbei, einige schauten kurz hin und grinsten nur, andere schüttelten den Kopf, machten Bemerkungen, lachten. Einer motzte etwas von im Weg herum stehen. Er musste es vorsichtig angehen. Wenn er sie erschreckte, indem er sie aus der Starre befreite, konnte die Reaktion unangenehm ausfallen.

      Schließlich war er ein völlig Fremder und ein Kerl dazu. Das konnte Grund genug sein, heftig zu werden. Er wollte nichts verschlimmern. Je mehr er sie beobachtete, desto mehr spürte auch er ihre Anspannung. Es war ein Flitzebogen-Effekt, den er selbst nur zu gut kannte. Nicht wegen Panik, aber wegen Anspannung.

      Chip verstaute seine Liste, auf der nur noch zwei Gegenstände abzuhaken waren, schob seinen Wagen mit etwas Mühe aus dem Weg. Er war im Verlauf des Parcours schwer und vor allem linkslastig geworden. Er ging zu ihr hin. Am besten fing er es mit einer harmlosen Frage an. „Kann ich Ihnen helfen?“

      Gut. Das war ein profaner Satz, aber ein vorsichtiger Anfang. Fantasie war jetzt nicht unbedingt gefragt. Sie starrte weiter auf etwas und doch nirgends hin. Er wiederholte die Frage, sah sie an und drang durch, denn sie schüttelte den Kopf, aber schien weiter festgehalten. Was nun? Aufdringlich wollte er nicht erscheinen und so redete er ruhig mit ihr.

      „Ich sehe, dass Sie Angst haben, dass Sie gegen die Panik ankämpfen. Oft hilft es, nach draußen zu gehen, hilft frische Luft. Ich helfe Ihnen. Dort beruhigen Sie sich, können Atem holen, dann wird es wieder gehen.“ „Ich … kann nicht.“ Er war durchgedrungen. Die Starre bestand zwar weiter, aber sie redete. „Es wird gehen.“ „Ich … sie … ich sehe sie nicht mehr, finde sie nicht. Und die Leute da sind … zu viele Leute. Meine Moni …“ Er wusste sofort, um was es ging. „Ein Kind?“ Sie nickte.

      „Ihr Kind? Vielleicht hat sie etwas gesehen, das ihr gefiel und nicht darauf geachtet, dass Sie weitergingen.“ Wieder ein Nicken. „Ein kleines Mädchen. Sie ist erst Fünf. Ich kann sie nicht finden. Moni …“ „Ich finde sie. Atmen Sie ruhig durch. Ich finde sie. Wie sieht sie aus? Was hat sie an?“ „Dunkle Locken wie meine. Blaue Latzhosen, pinker Pullover.“ „Das hilft. Ich finde sie, versprochen. Kommen Sie, setzen Sie sich draußen hin und beruhigen Sie sich. Der Lärm, die Leute, die Lichter .. und Ihre Angst um die Kleine. Das ist zu viel. Sie müssen hier raus. Alles wird gut.“ Seine Stimme war sehr sanft. Sie nickte. „Zu viele Menschen.“

      Er ahnte, dass ihr noch viel mehr zu schaffen machte als die Angst um das Kind. Das verstärkte jedoch alles. „Ja. Komm. Ich bringe sie dir. Versuche zu vertrauen. Ich tu‘ nichts Böses.“ Er versuchte, Nähe zu schaffen, doch er machte den Fehler, sie am Arm zu berühren, weil er sie führen wollte. Es war ein Reflex. Sie zuckte zusammen und wich zurück. Ihre Augen weiteten sich erneut und er nahm seine Hand sofort zurück. Sie ertrug Berührungen nicht. „Entschuldige. Komm, mach einen Schritt nach dem anderen, komm mit mir.“

      Sie schien jünger als er zu sein. Das Gesicht hatte etwas Kindliches an sich. Durch das Du wollte er ein Gefühl der Vertrautheit erzeugen. „Sieh mich an. Schau mir in die Augen. Ich bin nicht gefährlich und ich will dich nicht bedrängen. Schau, ich mache für dich meine Fenster ins Innere meiner Seele - meine Augen - weit auf, damit du hineinsehen kannst. Ich bin Chip.“

      Nun richtete


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