Scarlett Taylor. Stefanie Purle
Hat sie denn nicht die Tampons gesehen? Ich brauche die Schokolade!
Also gebe ich ihr die Gurke. Wieder rollt sie mit den Augen.
Sie kassiert ab und gibt mir dreizehn Cent zurück. Ich verlasse hastig das Geschäft und gehe zum Parkplatz. Blöde Kuh, denke ich und werfe meine Einkäufe auf den Beifahrersitz meines schrottreifen Wagens. Biep, biep, biep... vibriert mein Handy in der Manteltasche. Ich setze mich ins Auto, packe die Schokolade aus und beiße hinein, dann hole ich mein Handy hervor und öffne die Mail-App.
Ich kneife die Augen zu und sende ein Stoßgebet gen Himmel: „Bitte, bitte, lass es eine Job-Zusage sein!“ Schließlich bin ich seit knapp sechs Monaten arbeitslos und wenn ich nicht bald einen Job finde, werde ich elendig verhungern und verdursten. Okay, vielleicht nicht ganz so schlimm.
Aber nein, es ist keine Job-Zusage. Tante Elvira hat mir geschrieben. Seltsam, sie schreibt eigentlich nie E-Mails. Ich wusste gar nicht, dass sie meine Adresse hat.
In der Betreffzeile steht "Wichtig! Bitte sofort lesen!". Ich rechne mit einer Art Kettenbrief, einer von der Sorte "Wenn du diese Mail nicht weiterleitest, bist du heute Nacht tot!". Tante Elvira würde auf so etwas hereinfallen, sie war schon immer abergläubisch. Also werfe ich mein Handy zu meinen Einkäufen auf den Beifahrersitz, starte den Motor und beiße erneut von meiner Schokolade ab, ohne die Mail zu lesen. Mein Auto piept, fast so nervig wie mein Handy. Es will Benzin. Aber bis zu meiner Wohnung wird es wohl noch reichen, hoffe ich.
Aber es reicht nicht. Zwanzig Meter vor meinem Parkplatz geht der Motor mit einem gluckernden Seufzen aus. Ich fluche und schlage auf das Lenkrad. "Du dämliche Mistsau!", schreie ich die Blechkiste an und versetze ihm einen weiteren Schlag, diesmal auf die Hupe. Passanten, die neben mir auf dem Bürgersteig vorbeilaufen, schütteln mit dem Kopf. Für heute reicht es mir wirklich mit dem Augenrollen und Kopfschütteln!
Ich nehme den Gang raus, öffne die Tür und schiebe mein Auto ächzend auf den Parkplatz. Natürlich hilft mir keiner, auch nicht mein arroganter Nachbar, der gerade in Unterhemd und Boxershorts den Müll nach draußen bringt. Er bleibt stehen, kreuzt die Arme vor der Brust, damit man seinen lächerlich großen Bizeps noch besser sehen kann, und beobachtet mich grinsend. Er steht selbst noch in dieser Haltung da, als ich, meine Sachen auf dem Arm balancierend, an ihm vorbei zur Haustür gehe. Sein Grinsen ist eines von der arroganten, überheblichen Sorte, so eins, wo nur ein Mundwinkel leicht nach oben gezogen ist. Ich fummle in meiner Manteltasche nach dem Haustürschlüssel und ignoriere ihn.
"Na, Schneider, alles klar?" fragt er und wirft den Kopf nach hinten.
"Hmm“, grunze ich und vermeide jeglichen Blickkontakt.
"Soll ich dir vielleicht helfen?"
"Nee, geht schon", ächze ich in dem Moment, als meine Tampons zu Boden fallen. Noch bevor ich mich bücken kann, hat er die Schachtel schon in der Hand.
"Super extra large“, liest er von der Schachtel ab und lacht. "Wusste gar nicht, dass so ein zartes Persönchen wie du, so ein Fassungsvolumen hat!"
Mir ist klar, dass seine Bemerkung ironischer Natur ist, denn ich bin weit entfernt davon ein zartes Persönchen zu sein, womit ich aber eigentlich kein Problem habe. Mein einziges Problem in diesem Moment ist, dass dieser Kerl meine Tampons in den Händen hält!
"Gib her!", keife ich und will ihm die Schachtel aus der Hand reißen, doch er hält sie hoch und grinst amüsiert.
Man, wie ich dieses Grinsen hasse. Es ist noch so eine Art überhebliches Grinsen, aber diesmal mit Zähnen. Mit weißen, perfekten Zähnen, die im Dunkeln zu leuchten scheinen.
"Na, komm, Schneider, ich helfe dir", gibt er nach, mit einem milderen Gesichtsausdruck und schließt die Tür für mich auf.
Mit seinen dicken Muskelarmen hält er sie offen und ich husche an ihm vorbei. Warum ich in dem Moment rot werde, weiß ich nicht, aber ich könnte mich selbst dafür ohrfeigen. Natürlich bemerkt er meine Röte und setzt sein verführerischstes Lächeln auf.
Von oben ruft eine junge, weibliche Stimme: "Schaaatz, wo bleibst du?"
"Komme gleich, Baby. Ich trage nur noch der Frau Schneider die Tampons nach oben. Bin gleich wieder da!"
Wenn Blicke töten könnten, wäre er jetzt tot. Nicht nur das, er wäre zu Staub zerfallen, zu Staub und Asche!
Aber nein, er lacht mal wieder, zeigt seine weißen Perlenzähne, spannt scheinbar extra die Muskeln für mich an und steigt die Treppen hinauf, anstatt zu Staub zu zerfallen. Ich zwinge mich, nicht auf seine prallen Pobacken vor mir zu starren, die sich durch den dünnen Stoff der Boxershorts abzeichnen, und folge ihm.
Er wartet, bis ich meine Tür aufgeschlossen habe und dreht dabei meine Schachtel Tampons in seinen Händen. Dann legt er sie auf den Stapel Einkäufe in meinem Arm, zwinkert mir erneut zu und sprintet ein Stockwerk höher, wo dieses junge Ding auf ihn wartet. Ich höre ihr Kichern und sein bärenartiges Grunzen, bis endlich die Tür hinter mir ins Schloss fällt.
Nachdem ich meine Einkäufe verstaut habe, schalte ich den Fernseher ein und lege mich aufs Sofa. Ich nehme mein Handy und lese endlich diese blöde Kettenmail meiner Tante. Doch als ich sie öffne, merke ich schnell, dass es sich nicht um eine Kettenmail handelt.
Liebe Scarlett,
wenn Du diese Mail bekommst, bedeutet es, dass mir vor sieben Tagen etwas zugestoßen ist. Bitte mach Dir keine Sorgen, ich komme schon klar. Allerdings brauche ich Deine Hilfe. Du musst meinen Job übernehmen. Alles, was Du dazu benötigst, habe ich für Dich hinterlegt. Den Schlüssel zu meinem Büro findest Du in dem Buch "Krieg und Frieden", das ich Dir zum zwanzigsten Geburtstag geschenkt habe. Er klebt auf der letzten Seite. Gehe bitte in mein Büro, dort findest Du in der untersten Schublade meines Schreibtisches ein Buch. Darin steht alles, was Du wissen musst. Bitte höre den Anrufbeantworter ab und kümmere Dich um meine Kunden.
Behandle bitte alles vertraulich, es wird Dir eh keiner glauben. Aber glaube mir, es ist alles wahr!
In Liebe,
Deine Tante Elvira
Ich springe auf und renne zu meinem Bücherregal. Krieg und Frieden, Krieg und Frieden, da ist es! Ich hole das schwere Buch hervor und blättere zur letzten Seite. Tatsächlich, dort klebt ein Schlüssel! Ich löse den Klebestreifen und halte den silbernen Schlüssel in meiner Hand.
Vor sieben Jahren hat Elvira ihn also schon bei mir versteckt. Und wie gut sie mich doch kennt, sie wusste genau, dass ich dieses Buch nie lesen, und deshalb nie sein Geheimnis vorab entdecken würde.
Ich stecke den Schlüssel in meine Hosentasche und nehme mein Handy. Ich rufe Elvira an, doch es geht nur die Mailbox dran. Dann versuche ich es auf ihrem Festnetzanschluss, doch auch dort geht niemand ran. Mein Herz pocht aufgeregt in meiner Brust. Wo ist Tante Elvira, was ist ihr zugestoßen? Erneut lese ich die Mail von ihr.
Wenn du diese Mail bekommst, bedeutet es, dass mir vor sieben Tagen etwas zugestoßen ist.
Wie konnte sie mir diese Mail schicken, wenn ihr etwas zugestoßen ist? Was, um Himmels Willen, ist mit ihr geschehen? Und wieso soll ich ihr Reisebüro übernehmen? Es kann ihr doch egal sein, ob die Leute nun noch in den Urlaub fliegen oder nicht. Und was meinte sie damit, dass mir eh keiner glauben wird?
Tausend Fragen schießen durch meinen Kopf und machen mich ganz schwindelig. Erst laufe ich nervös in meiner Wohnung auf und ab, lese die Mail wieder und wieder, fahre mir durch die Haare und rede mit mir selbst.
Doch dann beschließe ich, das einzig Logische zu tun: Ich muss in Elviras Reisebüro und das Buch holen, das sie dort für mich verwahrt.
Und dann werde ich Elvira finden.
Kapitel 2
Meine Hände zittern und ich bin völlig außer Atem, als ich vor Elviras Reisebüro stehe und den Schlüssel ins Schloss stecke. Die