Scarlett Taylor. Stefanie Purle
Innenraum wird von den leuchtenden Palmen im Schaufenster in mattes Neongrün getaucht. Meine Hand tastet suchend an der Wand entlang, bis ich endlich den Lichtschalter finde.
„Elvira?!“, rufe ich und meine eigene Stimme hallt mir in dem kargen Raum entgegen wie ein Echo. „Elvira, bist du hier?“
Keine Antwort. Ich blicke von den Regalen mit Reiseprospekten an der Wand zum Schreibtisch und hinüber zur Pflanze in der Ecke des Raumes. Keine Verwüstungen, keine Zeichen eines Kampfes, alles sieht aus wie immer.
„Elvira?“, rufe ich erneut, bevor ich mich an ihren Schreibtisch setze. Wieder erhalte ich keine Antwort. Etwas zögerlich ziehe ich die Schubladen auf, erwarte jeden Moment, dass meine verrückte Tante um die Ecke gesprungen kommt und mir sagt, dass alles nur ein Scherz gewesen ist.
In der ersten Schublade liegen ein paar Büroklammern und Druckerpapier. Die zweite Lade ist leer, bis auf einen einsamen Kugelschreiber. Dann ziehe ich die unterste Schublade heraus, in der Elvira mir das Buch hinterlegen wollte. Doch auch sie ist leer.
„Sehr witzig, Elvira!“, rufe ich in den leeren Raum. „Du kannst jetzt rauskommen.“
Aber es folgt keine Reaktion. So langsam zweifele ich an mir selbst. Ich hole mein Handy hervor und lese mir die Mail erneut durch.
Gehe bitte in mein Büro, dort findest Du in der untersten Schublade meines Schreibtisches ein Buch.
So steht es dort. Aber hier ist kein Buch!
Aufgewühlt und ein wenig genervt, lehne ich mich im Stuhl zurück. Mein Blick gleitet durch das spartanisch eingerichtete Reisebüro. Ich habe mich immer gefragt, warum Elvira hier nicht ein wenig mehr dekoriert. Außer den leuchtenden Palmen im Schaufenster gibt es keinerlei Deko. Keine Bilder von endlosen Sandstränden, keine Aufsteller mit Werbung für den nächsten Skiurlaub, nur die schmalen Regale mit Broschüren. Hinter dem Schreibtisch ist die Tür zur Kaffeeküche, geschmückt mit einem einfachen Kalender ohne Bilder. Ich stehe auf und gehe darauf zu. Der Kalender zeigt noch das Juli-Blatt, dabei haben wir schon September. Vorsichtig öffne ich die Tür einen Spalt und rechne mit einer lachenden Elvira dahinter, die mit dem Finger auf mich zeigt. Aber auch dieser Raum ist leer. Ich schalte das Licht an und sehe mich um. An der einen Wand steht ein Tisch, mit Tassen, Wasserkocher, Kaffeepulver und einer Schale Zucker. Gegenüber davon ist eine kleine Spüle, und auf der anderen Seite des länglichen Raumes steht ein Schreibtisch.
Ein Schreibtisch? Ich bin mir sicher, ihn hier noch nie gesehen zu haben, und als ich mich weiter umblicke, merke ich auch, wieso: Vor dem Schreibtisch ist eine Trennwand angebracht, die man zuziehen kann. Ich habe immer gedacht, dahinter würde Elvira Papiere, Prospekte, Druckerpatronen und so weiter aufbewahren. Doch da war die ganze Zeit ein Büro versteckt, zwar ein kleines, aber trotzdem ein voll ausgestattetes Büro.
Der Tisch wirkt sehr alt, ist aus dunklem, leicht rötlichem Holz, mit Schnitzereien an den Seiten. Vor ihm stehen zwei Sessel, hinter ihm ist ein großer Bürostuhl, mit schwarzem Leder bezogen. Erst jetzt bemerke ich die Wand hinter dem Schreibtisch. Sie ist mit Pinnwänden gespickt, an denen unzählige Zeitungsartikel, Fotos und gezeichnete Symbole auf vergilbtem Papier hängen. Die ganze hintere Wand des Raumes ist voll davon. Rechts und links hängen geschnitzte Masken mit schrecklichen Fratzen, darunter baumeln seltsame Amulette mit Sternen, Gesichtern und anderem seltsamen Kram.
Wenn das ein Streich sein soll, dann ist es ein sehr aufwändiger Streich.
Ich gehe um den Tisch herum und setzte mich in den ledernen Stuhl. Auf dem Tisch steht eine kleine Lampe, eine von diesen grün goldenen Bänkerlampen. Ich schalte sie ein und öffne vorsichtig die erste Schublade. Sie ist voll mit seltsamem Kram. Noch mehr Amulette, ein silberner Dolch, ein Säckchen mit bunten Edelsteinen und Dosen mit unterschiedlichen Kräutern. In der zweiten Schublade sind ein paar Bücher. Sie wirken sehr alt, beinahe antik. Auf einem steht „Mythische Kreaturen“, auf einem anderen „Geistwesen“. Ich schüttle mit dem Kopf. Was ist das alles?
Dann mache ich mich an die unterste Schublade und hoffe, dass ich hier finde, was Elvira für mich hinterlegt hat. Unwillkürlich halte ich die Luft an, während ich sie aufziehe.
Obenauf liegt ein weißes Blatt Papier auf dem in großen Buchstaben mein Name steht. Nur mein Name, sonst nichts. SCARLETT. Ich nehme es heraus und lege es auf den Schreibtisch. Unter dem Blatt ist das besagte Buch. Ein ziemlich dickes, in Leder gebundenes Buch mit einem fünfzackigen Stern eingebrannt auf dem Deckel. Mit beiden Händen hebe ich es heraus und sehe, dass das noch nicht alles ist, was Elvira für mich hinterlegt hat. Da ist ein Handy, mit einem Klebezettel, auf dem wieder mein Name steht. Dann noch ein silbernes Amulett an einem Lederband. Es sieht aus wie eine Münze, mit seltsamen Symbolen und Schriftzeichen darauf. Ich lasse es durch meine Finger gleiten und begutachte es. Es wirkt sehr alt und handgefertigt.
Ganz hinten in der Lade ist ein Kulturbeutel, an dem auch ein Klebezettel mit meinem Namen klebt. Er ist schwer und prall gefüllt. Als ich ihn öffne, kommt mir ein seltsamer Geruch entgegen. Es riecht nach Gewürzen, Kräutern und rostigem Metall. Ich hole verschiedene Sachen heraus: Einen Samtbeutel gefüllt mit Edelsteinen, mehrere Fläschchen mit Pulver oder Salzen, ein silberner Flachmann mit irgendeiner Flüssigkeit, dann noch ein paar silberne, goldene und kupferne Amulette und Münzen mit Symbolen darauf.
Ich habe keinen Schimmer, was ich mit all dem Zeug anfangen soll. Verwirrt sortiere ich es zurück in die Kulturtasche. Dann mache ich mich an das mysteriöse Buch mit dem Stern auf dem Deckel und schlage es auf. Auf der ersten Seite ist eine handschriftliche Notiz von Elvira an mich, darunter klebt ein Briefumschlag.
Liebe Scarlett,
ich freue mich, mein Vermächtnis nun an Dich weitergeben zu können. (Auch wenn ich mir gewünscht hätte, es Dir unter anderen Umständen beizubringen.)
Vermächtnis? Wovon spricht sie nur?
Ich weiß, all das mag Dir sehr fremdartig und seltsam vorkommen-
Du hast ja keine Ahnung...
-aber ich kann Dir versichern, alles, was Du in diesem Buch lesen wirst, ist wahr.
Du musst Dich von nun an um unsere Kunden kümmern.
Welche Kunden? Ich verstehe das alles nicht!
Bist Du im Dienst, wirst Du Dich Scarlett Taylor nennen, nicht Scarlett Schneider. Von nun an hast Du zwei Identitäten:
- Scarlett Schneider, wenn Du nicht im Dienst bist,
- Scarlett Taylor, Parapsychologin im Außendienst, wenn Du arbeitest.
Du wirst als Parapsychologin Dinge tun müssen, die oftmals illegal und gesetzeswidrig sind. Benutze deswegen diesen Decknamen bei Deinen Aufträgen.
„Was?“, schreie ich in die Stille hinein und klappe das Buch zu. Meine Tante muss verrückt sein! Parapsychologin... Was soll das sein?
Ein weiteres Mal hole ich mein Handy aus der Tasche und wähle Elviras Nummer. Ich muss mit ihr sprechen. Dringend! Aber wieder geht sie nicht ran.
Ich schlage das Buch erneut auf. Da ist dieser Briefumschlag. Doch ein wenig neugierig öffne ich ihn und fische zwei Plastikkarten und ein Büchlein heraus. Als ich sie ansehe, kann ich es kaum fassen: Es ist ein Personalausweis, ein Führerschein und ein Reisepass. Alle drei ausgestellt auf den Namen „Scarlett Taylor“, mit meinem Foto als Passbild.
„Scarlett Taylor“, flüstere ich leise und lese den Namen wieder und wieder auf den Ausweisen. „Scarlett Taylor... So schlecht klingt das gar nicht.“
Ich bin völlig in Gedanken vertieft, als das Telefon klingelt. Vor Schreck lasse ich meine neuen Ausweise fallen. Nach dem zweiten Klingeln geht der Anrufbeantworter an und ich lausche gespannt der Ansage.
„Dies ist der Anschluss von Elvira Taylor, Parapsychologin im Außendienst. Ich bin zurzeit leider nicht im Büro, Sie können mir