Scarlett Taylor. Stefanie Purle
fahre die lange Auffahrt hoch, die sich zwischen den Bäumen auftut und sehe durch die Wassermassen hindurch verschwommen das Haus. Es ist riesig. Je näher ich komme, umso massiver und größer wirkt es. Dreistöckig, dunkelrote Backsteine, weiße Fensterrahmen und Fenster, die wie dunkle Augen jedem Ankömmling argwöhnisch entgegenstarren. In der Mitte führen graue Zementstufen zu einer dunkelgrünen Haustür empor, welche wie ein riesiger Schlund zwischen den Fensteraugen sitzt.
Ich lache kurz auf. Kein Wunder, dass die Bewohner meinen, hier würde es spuken. Das Haus sieht alles andere als einladend aus. Es kommt selbst mir so vor, als würde es mich böse ansehen.
Ich nehme meine Sachen, halte sie schützend unter meinem Mantel an mich gedrückt, steige aus und renne die Stufen zur Haustür hoch. Dieser kurze Weg reicht aus, um mich völlig zu durchnässen. Ich streiche mir die nassen Strähnen aus dem Gesicht und drücke den Klingelknopf. Zu dem melodischen Ding-Dong gesellt sich ein markerschütternder Donner und ich zucke erschrocken zusammen.
Die Tür öffnet sich einen Spalt breit und die verweinten, rot unterlaufenen Augen einer Frau sehen mich an.
Ich räuspere mich. „Guten Tag, ich bin Scarlett Schn... Taylor. Wir waren verabredet.“
Die Frau wischt sich mit einem zerknüllten Taschentuch über die Nase und nickt, dann öffnet sie die Tür. „Kommen Sie rein“, sagt sie, und ich erkenne ihre weinerliche Stimme wieder. Sie ist die Frau, mit der ich telefoniert habe. Ihr langes, blondes Haar ist zerzaust und im Nacken zu einem lockeren Knoten gebunden. Sie trägt einen weiten Pullover, Leggings und Hausschuhe.
Ich schreite über die Türschwelle und putze meine nassen Schuhe an der Fußmatte ab. Der hölzerne Boden unter mir quietscht und ächzt. Ich frage mich, ob man dieses Quietschen eventuell als Stimmen fehlinterpretieren könnte und ich vielleicht in diesem Moment schon den Fall gelöst habe. Doch ich behalte meine Vermutung vorerst für mich und sehe mich um.
Der Innenraum des Hauses wirkt dunkel und düster. Obwohl mehrere kleine Lampen brennen, geben sie nicht wirklich viel Licht ab. In den Ecken sind tiefe Schatten, die Täfelung an den Wänden ist in dunklem Holz gehalten und auch von draußen kommt nicht viel Licht herein, da die hohen Bäume die Sicht auf den Himmel versperren.
„Ich bin Zoe, wir hatten telefoniert“, stellt sie sich vor und reicht mir die Hand.
Ich schüttle sie und bemerke, wie sehr sie zittert. Sie dreht sich ängstlich um, während sie ihr Taschentuch an die Lippen presst.
„Alles in Ordnung?“, frage ich und folge ihrem Blick in eine Ecke des Raumes, sehe aber nichts.
„Ja, ja... Alles in Ordnung“, stammelt sie und schließt die Arme um ihren Körper. „Kommen Sie, wir gehen in die Küche.“
Ich folge ihr, während ein weiterer Blitz, samt Donner am Himmel tobt. Für einen kurzen Moment ist der Innenraum des Hauses erleuchtet, nur für den Bruchteil einer Sekunde. Zoe zuckt zusammen und keucht, geht dann aber weiter.
Die Küche ist groß und rustikal gemütlich eingerichtet, doch auch hier ist es auffallend dunkel. Trotz der zwei Fenster und den Leuchtröhren unter den Hängeschränken wirkt es unheimlich düster hier drin. Wir nehmen an der Kücheninsel mit der Marmorplatte Platz.
„Kann ich Ihnen einen Tee anbieten?“, fragt sie, während ich meine Sachen auf dem Hocker neben mir abstelle.
„Gerne,“ sage ich. „Wollen wir uns nicht duzen?“
Zoe nickt und füllt dampfend heißes Wasser von einem Teekessel in zwei Tassen, während ich ihr zusehe. Sie ist sehr dünn, wirkt abgemagert und ein wenig kränklich. Ihre spitzen Schulterblätter zeichnen sich durch den weiten Strickpullover ab. Mit zitternden Händen trägt sie die Tassen zur Kücheninsel. Ich lehne mich vor, komme ihr entgegen und nehme ihr eine Tasse ab.
„Danke“, haucht sie und schaut sich hektisch um, bevor sie sich setzt. Sie legt die Hände um die heiße Tasse und weicht meinem Blick aus. Ihre Lippen sind trocken und aufgesprungen, ihre Haut wirkt matt und fahl. Ich frage mich, ob Zoes eigentliches Problem vielleicht ganz woanders liegt, und gar nichts mit diesem Haus zu tun hat.
Was würde Elvira in dieser Situation tun? Was erwartet sie von mir?
„Geht es dir gut, Zoe?“, frage ich vorsichtig und lächle sie mitfühlend an. Sie wirkt so zerbrechlich, dass ich am liebsten nach ihrer zitternden Hand greifen würde.
Zoe seufzt, beißt sich auf die Unterlippe und schüttelt mit dem Kopf. „Nein“, flüstert sie und blickt in eine Ecke. Ich folge ihrem Blick ein weiteres Mal, sehe jedoch nichts Auffälliges. „Ich brauche dringend deine Hilfe, Scarlett“, sagt sie leise flehend und ich sehe eine Träne in ihrem Augenwinkel.
„Deswegen bin ich ja hier, Zoe. Wie kann ich helfen?“ Ich verberge, dass ich keine Ahnung habe, wie ich ihr helfen kann. Außer dem, was ich letzte Nacht in dem Buch von Elvira gelesen habe, weiß ich nichts über Geister, Poltergeister oder Dämonen. Auch sage ich ihr nicht, dass ich an Dergleichen gar nicht glaube, sondern davon ausgehe, dass es für die Phänomene hier im Haus eine einleuchtende, wissenschaftlich belegbare Erklärung gibt.
Wenn es die Aufgabe einer Parapsychologin ist, einen Spuk als natürliches Phänomen zu enttarnen, und somit die Kunden zu beruhigen, dann kann ich Elvira sicherlich eine Zeit lang vertreten. Mal ganz davon abgesehen, dass ich zurzeit eh keine Arbeit und sowieso nichts Besseres zu tun habe.
Zoe holt den Teebeutel aus ihrer Tasse und gibt zwei Löffel Zucker hinein. Wieder seufzt sie und legt mit zitternder Hand den Löffel zur Seite. „Heute Nacht war es besonders schlimm“, beginnt sie leise zu erzählen und hält den Blick auf ihre Hände gesenkt. „Mein Mann Peter ist auf Geschäftsreise. Wenn Julie und ich alleine sind, ist es immer besonders aktiv. Julie ist unsere Tochter.“
Ich nicke und rühre in meiner Teetasse. „Was ist heute Nacht passiert?“, hake ich nach.
Zoe reibt sich die Stirn und beginnt zu weinen. Ich lege tröstend meine Hand auf ihre, doch sie erschrickt und zuckt zurück. „Entschuldigung“, wimmert sie und hält die Hände vor ihr Gesicht. Nach ein paar Schluchzern fährt sie fort. „Julie und ich lagen im Bett, als wir wieder dieses Atmen und Stöhnen hörten. Es kam immer näher und näher, die Lichter flackerten und wir hörten Schritte im Flur. Dann fiel der Strom aus und wir sahen diesen riesigen Schatten am Fußende des Bettes.“
Während Zoe mit bibbernden Händen ihre Nase putzt, sehe ich mich um. Dieses Haus ist alt, sicherlich um die einhundert Jahre, wenn nicht noch älter. Auch jetzt pfeift der Wind durch die geschlossenen Fenster, und die Äste der riesigen Bäume rings um das Haus herum schlagen gegen Wände und Dächer. Mit ein wenig Fantasie könnte man das ziemlich leicht als Schritte, Atmen und Stöhnen interpretieren.
„Der Schatten war größer als je zuvor“, fährt Zoe nun fort. „Eine große, schwarze, undurchsichtige Masse in der Form eines Mannes, mit enormen Schultern und überlangen Armen. Julie und ich schrien, wir waren panisch! Dieses... Ding schlug mit den Fäusten aufs Bett, einmal, zweimal, dreimal. Wir hörten es fauchen und knurren. Und dann war es plötzlich weg und das Licht ging wieder an.“ Sie sieht mir zum ersten Mal seit meiner Ankunft direkt in die Augen. „Ich weiß, wie sich das anhört, Scarlett, aber wir sind nicht verrückt. Julie und ich haben es beide gesehen.“
Ich nicke. „Wurden die Leitungen im Haus in letzter Zeit mal von einem Elektriker überprüft?“, frage ich vorsichtig.
Zoe schüttelt leicht mit dem Kopf und blickt mit gekräuselter Stirn in ihre Teetasse. „Es ist nichts mit den Leitungen. Peter hat sie mehrfach überprüfen lassen, aber sie sind einwandfrei. Der Strom fällt nicht aus, weil die Leitungen defekt sind!“, versichert sie mir und blickt erneut in meine Augen. Diesmal sehe ich blanke Panik in ihrem Gesicht. Ehrliche, aufrichtige Panik. „Dieses Ding lässt den Strom ausfallen! Und die Schritte oder das laute Atmen kommen auch nicht vom Wind, oder davon, dass das Haus sich setzt, oder von irgendeinem Nager in den Zwischenwänden! Es ist dieses Ding! Es will uns aus dem Haus haben, tot oder lebendig!“
Ich schlucke. „In Ordnung, Zoe. Ich glaube dir“,