INQUISITOR MICHAEL INSTITORIS 1 - Teil Eins. Eberhard Weidner
sich nicht vorstellen, dass seine Verfolger abgezogen und nach Hause gegangen waren. Eher schienen sie ihr Verhalten radikal geändert zu haben und schlichen sich lautlos an, um ihn mit dem Aufsprengen dieser Tür zu überrumpeln, die das letzte Hindernis darstellte, das sie noch von ihrem Opfer trennte.
Der Inquisitor wich Schritt um Schritt zurück, die Pistolenmündung auf das dunkelbraune, von zahlreichen Kratzern übersäte Holz des Türblattes gerichtet. Ihm war klar, dass diese Barriere trotz des Schlosses ebenfalls nicht lange standhalten würde, sollten die Luziferianer beginnen, sich mit aller Gewalt dagegen zu werfen.
In Gedanken zog Michael Bilanz und zählte die Schüsse, die er bislang abgegeben hatte. Er kam auf acht. Da das Magazin der Glock siebzehn Patronen fasste und sich zusätzlich eine im Lauf befunden hatte, standen ihm somit noch zehn Kugeln zur Verfügung.
Er überlegte, ob er die Automatik schon jetzt mit dem einzigen Ersatzmagazin nachladen sollte, das er bei sich hatte, um im Notfall möglichst viele Patronen schussbereit zur Verfügung zu haben, als ihm zum ersten Mal der stechende Geruch im Raum richtig bewusst wurde. Er hatte ihn zwar schon wahrgenommen, als er über die Türschwelle gestürmt war, ihm aufgrund des weit dringlicheren Problems, das seine Verfolger darstellten, aber vorerst keine besondere Beachtung geschenkt. Doch nun konnte er die penetrante und übelkeitserregende Mischung aus frisch vergossenem Blut, flüssigem Kerzenwachs, faulen Eiern und Verwesung nicht länger ignorieren. Darüber hinaus stieß er mit dem linken Fuß beim Zurückweichen gegen ein Hindernis, das leicht nachgab, ihn aber trotzdem beinahe ins Straucheln gebracht hätte.
Obwohl er die Tür ungern aus den Augen ließ, wandte Michael sich um, um nachzusehen, was in seinem Weg lag und ihn fast zu Fall gebracht hätte. Wegen des widerlichen Gestanks verzog er das Gesicht und unterdrückte mit Mühe den Würgereflex in seiner Kehle.
Als der Inquisitor allerdings sah, worauf er im wahrsten Sinne des Wortes gestoßen war, verlor er den Kampf gegen den Brechreiz. Er wandte sich ruckartig ab, beugte sich vor und gab seinen gesamten Mageninhalt in einem einzigen warmen und bitteren Schwall von sich, der sich auf den Parkettboden ergoss. Und obwohl er die tränenden Augen geschlossen hielt, stand ihm das furchtbare Bild noch deutlich vor Augen.
Beim Zurückweichen war er unbemerkt in einen Kreis getreten, der aus sieben schwarzen Kerzen gebildet wurde, die für die ständig lebhaft flackernde Helligkeit im Raum verantwortlich waren. Innerhalb der Lichter war ein weiterer Kreis mit glänzend schwarzer Farbe auf das Parkett gemalt worden, der einen ebenfalls aufgemalten und von der Tür aus gesehen auf dem Kopf stehenden, fünfzackigen Stern umschloss. Das Hindernis, gegen das Michael mit der Hacke seines linken Schuhs versehentlich gestoßen war, entpuppte sich als Kopf eines Menschen. Wie Leonardo da Vincis berühmte Studie der Idealproportionen des menschlichen Körpers lag die reglose Gestalt mit gespreizten Gliedmaßen innerhalb des Pentagramms – Kopf, Arme und Beine befanden sich jeweils in einer anderen Spitze des Sterns. Der Mann war unbekleidet und definitiv tot, denn er lag in einem wahren See seines eigenen Blutes, das aus einer klaffenden Wunde in seiner linken Brust geflossen war, in der noch der rituelle Opferdolch steckte, der ihn getötet hatte.
Doch die Schrecken nahmen damit kein Ende. Das Furchtbarste an diesem schrecklichen Fund war die Tatsache, dass Michael das Opfer kannte. Der Tote war niemand anderes als Kai Weber, sein kokainsüchtiger Informant, dessen Anruf ihn in dieser unheilvollen Nacht erst hierher, zu diesem Ort des Grauens geführt hatte.
Nachdem Michael sich übergeben hatte, war der Gestank, dem dadurch eine weitere unangenehme Note hinzugefügt worden war, leichter zu ertragen. Vielleicht gewöhnte er sich auch allmählich daran. Er wischte mit dem linken Ärmel der Lederjacke Speichel und Reste von Erbrochenem aus den Mundwinkeln. Anschließend richtete er sich auf und überlegte fieberhaft, was diese erneute Wendung der Ereignisse zu bedeuten hatte.
War Kai unmittelbar nach seinem Anruf ertappt und durch diesen grausamen Opfertod für seinen Verrat bestraft worden? Oder war er schon vorher enttarnt und gezwungen worden, den Inquisitor anzurufen und hierherzulocken? Aber was bezweckten die Luziferianer damit? Wenn sie einen Inquisitor töten wollten, gab es weniger aufwendige Möglichkeiten. Aber weshalb hätten sie ihn sonst in eine derartig ausgeklügelte Falle locken sollen?
Michael richtete den Blick auf den nackten Leichnam zu seinen Füßen, als wollte er sich vergewissern, dass er sich nicht getäuscht hatte, während sich seine Hände unwillkürlich fester um das Holz des Kreuzes und den Griff der Pistole schlossen.
Da durchschnitt eine Stimme die andächtige Stille des Todes und riss den Inquisitor aus seinen Überlegungen. Es handelte sich um die heisere Stimme eines Mannes, der sich zusammen mit Michael in diesem verschlossenen Raum aufhalten und wenige Schritte hinter ihm stehen musste. Doch es war weniger die Tatsache, dass er nicht allein hier war, sondern eher der Sinngehalt der Worte des Mannes, der den Inquisitor elektrisierte.
»Endlich lernen wir uns persönlich kennen, Sohn …«
Der Schock, den ihm diese Anrede versetzte, rief unwillkürlich eine Flut lang zurückliegender Erinnerungen in ihm wach, die sich tosend in seinen Verstand ergoss, während er sich gleichzeitig langsam um die eigene Achse drehte, um zu sehen, wer ihn auf diese Weise angesprochen hatte.
Seine leiblichen Eltern kannte Michael Institoris nicht, da er, erst wenige Tage alt und in eine wärmende Wolldecke gehüllt, vor der Haustür des damaligen bayerischen Generalinquisitors abgelegt worden war. Nachdem es den zuständigen Behörden trotz intensivster Nachforschungen nicht gelungen war, die leiblichen Eltern ausfindig zu machen, nahmen Generalinquisitor Josef Danner und seine Frau Paula das Findelkind wie einen Sohn bei sich auf. Die gläubigen Eheleute sahen in dem Jungen ein Geschenk und ein Zeichen Gottes, denn es war ihnen verwehrt geblieben, ein eigenes Kind zu empfangen.
Dessen ungeachtet verzichteten sie auf eine Adoption des Knaben, sodass Michael bis zu seiner Volljährigkeit ein Mündel des Staates blieb. Die Danners wollten den leiblichen Eltern die Chance geben, zurückzukehren und ihren Sohn wieder bei sich aufzunehmen. Dies hätte den liebevollen Pflegeeltern das Herz gebrochen, geschah jedoch nie.
Seinen Namen erhielt der Knabe von Generalinquisitor Josef Danner, der in ihm von Anfang an einen zukünftigen Inquisitor und unter Umständen sogar einen Nachfolger als Direktor der bayerischen Inquisition sah. Pate für den Vornamen war zweifellos der Erzengel Michael, der den Drachen Luzifer aus dem Himmel gestürzt hatte. Der passende Name für einen angehenden Inquisitor, dessen Aufgabe der Kampf gegen die Luziferianer war. Und Institoris war die latinisierte Form des Nachnamens Kramer und stammte von Heinrich Kramer, einem Inquisitor des 15. Jahrhunderts und Wegbereiter der damaligen Hexenverfolgung. Unter dem Namen Heinrich Institoris hatte er gemeinsam mit dem Dominikaner Jakob Sprenger den Malleus Malleficarum, auf Deutsch Hexenhammer, verfasst, das erste gedruckte »Hexengesetzbuch«, das zum Standardwerk für Strafrichter und Inquisitoren wurde.
Somit war Michael Institoris schon dem Namen nach dazu auserkoren, in den Dienst des Heiligen Amtes zu treten. Und die Erziehung, die ihm der gestrenge, aber allzeit liebevolle Generalinquisitor Josef Danner und seine Frau angedeihen ließen, leistete ein Übriges, sodass Michael nach dem Abitur wie selbstverständlich die Ausbildung zum Inquisitor begann. Er tat diesen Schritt aber nicht, weil er sich dazu gezwungen oder seinen Pflegeeltern gegenüber verpflichtet fühlte, sondern sah in diesem Dienst – ebenso wie Josef Danner, der wenig später in den verdienten Ruhestand trat – selbst seine vorherbestimmte Aufgabe. Weswegen war er sonst vor der Tür der Danners abgelegt worden? Und sobald er nach Abschluss seiner Ausbildung die ersten Einsätze hinter sich gebracht hatte, fühlte er sich in dieser Einschätzung bestätigt. Seitdem hatte er kein einziges Mal den Wunsch verspürt, einer anderen Tätigkeit nachzugehen.
Obwohl die Danners streng genommen nur seine Pflegeeltern waren, hatte Michael sie dennoch mit Mutter und Vater angesprochen. Aus diesem Grund war es für ihn sowohl befremdlich als auch schockierend, dass ihn jemand anderes als der Pflegevater oder sein Beichtvater mit Sohn ansprach. Noch dazu an diesem gottverlassenen Ort.
Nachdem diese Momentaufnahmen der eigenen Biografie in Michaels Kopf aufgeblitzt und wieder verblasst waren und er zugleich eine halbe Körperdrehung vollendet hatte, sah er die Person vor sich, die ihn auf dergestalt