GLOVICO. Ekkehard Wolf
Nur hatte sich das eben in Moskau, Minsk, Kiew oder St. Petersburg abgespielt. Praktisch in keinem einzigen Fall war es gelungen der Täter, geschweige denn ihrer Auftraggeber habhaft zu werden. Der Glaubwürdigkeit der Drohung auf die potentiell Betroffenen hatte das verständlicherweise keinen Abbruch getan. Die Botschaft war klar: „Die Macht kann euch nicht schützen und uns nicht zur Rechenschaft ziehen.“ Verbrechen dieser Art richteten sich immer an das Umfeld der Ermordeten. In diesem Fall war das auch so und auch genauso verstanden worden. Nur, dass sich die Täter nicht einen beliebigen neuen Russen als Demonstrationsobjekt ausgesucht hatten, sondern eben eine polnische Polizistin. Das verlieh der Angelegenheit eine besondere Qualität und das „Umfeld“ der Getöteten war sich dessen nur zu gut bewusst.
Selbst an der Spitze der Behörde, im polnischen Innenministerium hatte man zugleich auch recht gut die Zwickmühle verstanden, in die der gesamte Apparat durch diese Tat gebracht worden war. Natürlich musste man reagieren und war dabei zum Erfolg verurteilt. Wenn es nicht gelänge, Täter und Hintermänner ausfindig zu machen, dann würde die Saat der Angst auch hier aufgehen. Wer immer es wagen würde, sich denen in den Weg zu stellen, würde das Risiko kennen. Und darin bestand zudem das Dilemma: Jeder, der es versuchen würde, sich dieser netten kleinen Herausforderung zu stellen, der musste damit rechnen, sich der Früchte seiner Ermittlungsarbeit nicht mehr so recht erfreuen zu können. Übereifrige Ermittler waren ohnehin selten, denn in solchen Fällen reichte dann in der Regel eine einfache kleine anonyme Mitteilung auf der die Anschrift des Unbequemen, gegebenenfalls noch die Arbeitsstelle seiner Frau, die Anschriften der Schulen der Kinder und so weiter kommentarlos aufgelistet waren, um die jeweiligen Sachbearbeiter dazu zu veranlassen, ihrem Ermessensspielraum freien Raum zu lassen und die Ermittlungen in eine Richtung zu lenken, die den Ermittler selbst aus der Gefahrenzone herausbrachte. So etwas fiel in der Regel niemandem auf. Für die Versender der Grußbotschaften hatte das Einknicken der Betroffenen zudem die Rückmeldungsfunktion: „Schaut her, ich habe Angst. Verlangt in Zukunft von mir, was ihr wollt. Ich werde mich fügen.“
Dass eine solche Grundhaltung der Ergreifung der Täter nicht gerade dienlich war, verstand sich von selbst.
Dass die Aufklärungsquote in solchen Fällen gegen null tendierte, verstärkte wieder die Glaubwürdigkeit der Drohungen.
Die Auftraggeber lebten so in der beruhigenden Sicherheit grenzenloser Macht. Wenn es gleichwohl doch einmal einen Unbelehrbaren geben sollte, der meinte sich querstellen zu müssen, so wurde zunächst einmal dafür gesorgt, dass dessen Aufsässigkeit eine Zeitlang ungeahndet blieb. So konnte sich herumsprechen, dass hier jemand am Werk war, der sich traute, den Kriminellen ins Handwerk zu pfuschen. Erst danach wurde dann das Exempel statuiert, mit der Folge, dass der Einschüchterungseffekt nur umso nachhaltiger wirkte. Aber solche Unbelehrbaren waren selten. Ganz besonders selten bei Polizisten. Wenn überhaupt, so fanden sich solche Unbelehrbaren noch am häufigsten unter den Journalisten.
Agnieszka Malik hatte das möglicherweise nicht wahrhaben wollen. Das war Russland. Im Westen - und als Polin fühlte sie sich dem Westen zugehörig, auch wenn viele im Westen, insbesondere ihre unmittelbaren westlichen Nachbarn, das anders zu sehen beliebten - im Westen hatte sich dieses System bisher nicht durchgesetzt. Jedenfalls wenn man den Medien glauben schenken wollte. Obwohl – ja obwohl – der Begriff für diese Art von Kriminalität – Mafia – ja eigentlich nicht wirklich ein Wort der russischen Sprache war. Insofern war dieser Fall auch als eine Art Probelauf zu verstehen, der demonstrieren sollte: „Seht her, das klappt nicht nur bei uns, das klappt genauso gut auch bei euch.“ Insofern war den Verantwortlichen klar, dass gehandelt werden musste und das sehr energisch. Dass es aufgrund der Tatumstände nach menschlichem Ermessen tatsächlich unmöglich sein würde, der Täter habhaft zu werden, machte das Dilemma nicht wirklich kleiner.
Da waren berufsmäßige Killer am Werk gewesen, die ihre Aufträge so ausführten, wie es von ihnen verlangt wurde. Diese Leute verhielten sich professionell, machten ihren Job, hinterließen üblicherweise keine verwertbaren Spuren, tauchten dann wieder in der Versenkung ab. Zwischen ihnen und den Tätern gab es keinerlei Berührungspunkte. Die übliche Methode der Polizei, dem Täter über sein mögliches Motiv auf die Schliche zu kommen, versagte hier ebenso, wie die Täterermittlung über Spuren, die zurückgelassen wurden.
Im vorliegenden Fall beschränkten sich die Hinweise auf die drei Geschosse, die durch den Kopf der Getöteten in deren Körper eingedrungen waren. Dass es jemals gelingen würde, die dazu gehörige Waffe zu finden, erschien auch den optimistischsten Ermittlern in Anbetracht der Weitläufigkeit der norwegisch-schwedischen Seenlandschaft äußert unwahrscheinlich.
Auch ohne den Einschüchterungseffekt waren so konstruierte Straftaten bereits schwer genug aufzuklären. In diesem Fall, wo die Tat im Ausland begangen worden war, dürften die Wetten darauf abgeschlossen werden, dass das Kamel wohl eher durch das Nadelöhr schlüpfen werde. Es wäre daher unter dem Strich klüger gewesen, wenn man so hätte tun können, als ob es sich eben nicht um ein Verbrechen handelte, sondern zum Beispiel um den sprichwörtlichen, bedauerlichen kleinen Unfall. Aber diesen Ausweg hatten die Täter im Fall von Agnieszka Malik und ihren Begleitern Tomas und Kristof gezielt verbaut, indem sie dafür sorgten, dass auch nicht der geringste Zweifel am Tathergang aufkommen konnte. Nur so bekam der Fall die gewünschte Öffentlichkeit. Nur so konnten die Auftraggeber sicher sein, dass ihre Entschlossenheit und Fähigkeit zur Durchführung jedweder Aktion über jeden Zweifel erhaben war. Die Provokation war unübersehbar und zugleich auch die mit ihr ausgesprochene Herausforderung. Das konnte und durfte natürlich nicht ungeahndet bleiben, auch oder gerade weil nicht klar war, warum die Auftraggeber es in diesem Fall für nützlich erachtet hatten, den Sicherheitsbehörden den Fehdehandschuh mit solcher Energie vor die Füße zu werfen.
Der Polizeioffizier, der mit der Bearbeitung des Falles offiziell betraut wurde, beneidete sich folglich nicht um diesen Job. Er hatte sich nicht danach gedrängt. Aber auch sonst hatte sich niemand gedrängt und so war dann die Wahl auf ihn gefallen. Seinen Vorgesetzten war die Wahl nicht schwer gefallen. Unter den in Frage kommenden Leitern war er der einzige Ledige gewesen. Er war nicht auf den Kopf gefallen und hatte das Auswahlkriterium unschwer durchschaut.
„Das bedeutet zwar nicht unbedingt eine Anerkennung deiner besonderen Fähigkeiten und ist damit auch nicht einmal ansatzweise schmeichelhaft, dafür aber rational richtig, denn damit reduzierten sich in seinem Fall die Möglichkeiten zur Einschüchterung.“
Der frisch gebackene Leiter der Sonderkommission hatte keine Mühe dies anzuerkennen. Bei der Auswahl der Mitglieder seiner Einheit ließ er ähnliche Gesichtspunkte gelten. Dies hatte zur Folge, dass der Sonderermittlungsgruppe schließlich zumindest keine Person angehörte, die über eigene kleine Kinder erpressbar war.
„Wir können das nicht auf uns sitzen lassen,“ hatte der Hauptmann seinen Kollegen der Sonderkommission zur Begrüßung gleich beim ersten Treffen klar gemacht, „sonst machen die endgültig, was sie wollen.“
Darüber, dass die Chancen der Ermittler diesen Fall aufzuklären, nicht besonders rosig waren, machte er sich gleichwohl keinerlei Illusionen. Von seinen Kollegen nahm er an, dass sie die Angelegenheit mit ähnlichen Augen betrachteten. Laut sagen würde das natürlich niemand. Tomeck Miller entschied sich daher dafür zweigleisig zu fahren. Einerseits würde es darauf ankommen herauszufinden, wo sich seine Kollegin vor ihrem Tod aufgehalten hatte und andererseits galt es zu klären, welche Ermittlungen als so brisant eingestuft wurden, dass man es für nötig hielt, sie öffentlich hinzurichten. „Weshalb und woran“, so fragte er sich, „hatte Agnieszka Malik so verdeckt ermittelt, dass sich darüber keinerlei Hinweise in den Akten finden ließen?“
Auch in Norwegen sorgte der ganze Fall in der sonst so ruhigen Gegend für erhebliches Aufsehen. Ein kaltblütiger Mord, begangen von Menschen in Polizeiuniform an einer Polizeibeamtin aus Polen und ihrem Fahrer, so etwas passierte schließlich nicht alle Tage. Aber weder die bereits gleich in der Nacht eingeleitete Großfahndung hatte zu greifbaren Ergebnissen geführt, noch hatten die Ermittlungen der zur Lösung dieses Falles gebildeten Sonderkommission der Kriminalpolizei Erkenntnisse zu Tage gefördert, die eine Identifizierung der Täter erlaubt hätte. Es blieb bei der Anfangsvermutung, dass diese wohl im Dunstkreis der osteuropäischen organisierten Kriminalität zu suchen seien.