Der Hirte von Norderbüll. Thomas Christen

Der Hirte von Norderbüll - Thomas Christen


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mein Name ist nicht Adam und du bist nicht Eva. Erstens. Und zweitens war das damals sowieso anders herum. Und drittens gibt es jemanden in meinem Leben, der ... weswegen ich überhaupt hier bin ... und nein ... Verflucht! Nein!’

      Es donnerte und er verzog unwillkürlich das Gesicht. Offensichtlich hatte Gott einen Hang zur Theatralik.

      ‚Ja, ja, ich habe verstanden ...’

      „Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen plötzlich so blass aus. Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen machen“, fragte sie.

      Ihre Worte waren wie Angelhaken, die ihn in die Wirklichkeit hinaufzogen.

      „Alles ok“, antwortete er fahrig, „wenn Sie mir netterweise nur sagen könnten, wohin diese Straße führt.“

      Aus einem beängstigenden Lächeln wurde ein schelmisches Lächeln und sie zeigte mit der Hand die Straße hinauf. In etwa fünfzig Metern Entfernung stand ein Ortsschild neben dem Feld.

      Als er gelesen hatte, was auf dem Schild stand, nickte er abwesend und meinte:

      „Danke. Alles Gute. Und ich bitte nochmals herzlichst um Entschuldigung.“

      Und dann ging er mit erschreckend weichen Knien zum Wagen zurück.

      „Vielleicht sieht man sich ja einmal wieder“, hörte er sie ihm nachrufen.

      ‚Gott bewahre’, dachte er und schloss die Fahrertür. ‚Nicht, wenn es nach mir geht.’

      Als er an ihr vorbeifuhr, winkte sie ihm zu.

      Kanaan. Das gelobte Land. Nein, das stand nicht auf dem Ortsschild. Aber das hatte er auch nicht erwartet. Norderbüll – Kreis Nordfriesland. Ende der Reise. Gütiger Himmel, das fing ja gut an.

      An dieser Stelle erscheint es ratsam einen Augenblick lang innezuhalten und zum besseren Verständnis des bisher Geschehenen zurückzublicken. Zum einen sind tiefere Kenntnisse eines Weggefährten auf Zeit – also der Zeit, die es braucht bis zur letzten Seite dieser Geschichte vorzudringen und in dem ein oder anderen Fall auch darüber hinaus – eine wertvolle Sache und auf keinen Fall zu unterschätzen, zum anderen, um sich einmal mehr zu vergegenwärtigen, wie verschlungen und nicht selten perfide angelegt sich solche Wege durch ein von Gott geprüftes Leben ziehen können. Dass der Herr seine Schafe liebt und immer wieder prüft, ist hinreichend bekannt. Dass er allerdings ebensolche Prüfungen seinen Hirten auferlegt und ihre Verfehlungen nicht selten mit den drakonischsten Strafen belegt, ist manchem Schaf eher weniger geläufig. Aber der Reihe nach. Eins nach dem anderen. Und ja, der Verfasser muss sich mit allem Nachdruck entschuldigen. Es wäre eine Frage gebotener Höflichkeit gewesen, unseren in der Ungewissheit gestrandeten Hirten gleich am Anfang vorzustellen. Hiermit sei es unverzüglich nachgeholt.

      Hauke Steiner erblickte im Dezember 1978 das Licht der Welt. Der VfL Lübeck war auf Platz vier der Fußball-Oberliga Nord gelandet. Die Roten Brigaden hatten Aldo Moro ermordet, in London war das erste Retortenbaby geboren worden, der Ministerpräsident des Freistaates Bayern war ein Mann namens Franz Josef Strauß, das Jahr würde als das Dreipäpstejahr in die Annalen eingehen und Boney M. hatte sechzehn Wochen lang mit Rivers of Babylon den Äther geflutet. Nicht, dass ihm irgendeines dieser Ereignisse bewusst gewesen wäre.

      Noch war es nicht das ewige Licht, das ihm ins Auge fiel, dieses flackerte sozusagen noch im Nebel einer unbestimmten Zukunft, auch wenn es in der von seinem Bettchen nur wenige Schritte entfernten Kapelle des Krankenhauses sehr wohl ein solches gab, sondern es war das grelle Licht einer kreisförmigen Neonröhre unter der Decke des Kreissaales. Sein erstes Wort an die Gemeinde, von der er damals allerdings vollumfänglich noch nichts wissen konnte und die fürs erste und im wesentlichen aus einer kompetenten Ärztin, einer fürsorglichen Hebamme und seiner erschöpften Mutter zuzüglich seines in den angrenzenden Krankenhausflur entschwundenen und leicht angeheiterten Vaters bestand, sein erstes Wort also war – ein Schrei. Man muss zugeben, eine übermäßig individuelle erste Ansprache war es nicht, aber dennoch eine, die unter den gegebenen Umständen von seiner kleinen Gemeinde glücklich zur Kenntnis genommen wurde.

      Das Schreien gewöhnte ihm sein Vater ab. Und zwar indem er selber schrie. Vor allem immer dann, wenn die sanftmütige aber nicht selten überforderte Mutter nicht sofort zur Hand, oder zu Anfang vor allem ad os, hatte, wonach es den Kleinen gelüstete. Steiner Senior schrie. Er schrie seinen Schreibtisch an, er schrie die zu korrigierenden Lateinarbeiten seiner unfähigen Schüler an, er schrie seinen Gedanken hinterher, die sein Sohn soeben zu nicht wieder herstellbaren Fransen geplärrt hatte, er schrie ins Schlafzimmer, ohne zu bemerken, dass sich dort niemand mehr aufhielt, weil die personifizierte Sanftmut samt Nachwuchs, die schwankende Waage des Unmuts und Gleichmuts geschultert, längst in die frische Luft des Gartens geflohen waren, und manchmal, selten genug, schrie er sein Spiegelbild an, weil er es nicht ertrug, sich nicht besser sub imperium zu haben, wie er sich auszudrücken pflegte, wenn er sich später kleinlaut bei seiner Frau entschuldigte.

      Als Hauke eingeschult wurde, war der Stolz seiner Mutter mit Händen zu greifen gewesen. Sie strahlte wie eine ganze Herde von Honigkuchenpferden. Die kleine Tina, die in der Mengstraße neben dem Buddenbrookhaus wohnte und eine Woche älter als ihr Sonnenschein war, hatte ihn angehimmelt, seine Hand ergriffen und dann waren die beiden mit ihren Schultüten im Gewusel der Erstklässler in irgendeinem Klassenzimmer verschwunden. Kein Mensch hatte in den Jahren zuvor so oft die Sätze ‚Ein bezauberndes Baby’, ‚Was für ein hübscher Junge’, ‚Dem werden die Mädels aber einmal zufliegen’, ‚Auf den müssen Sie aufpassen, Frau Steiner’ oder ‚Das wird bestimmt mal ein kleiner Casanova’ zu hören bekommen. Manchmal war es nur ein knappes ‚Was für ein Romeo!’ oder ein kurzes Aufblitzen fremder Augen gewesen. Aber diese Sätze und Reaktionen waren der Kanon ihres mütterlichen Glücks, der Blumenstrauß, der nie verwelken würde.

      Und wenn in den Jahren, die auf die Grundschule folgten, einmal eine Klassenarbeit in die Hose gegangen war, dann lauschte sie eine Weile in sich hinein und lächelte.

      Michael Jackson besang quieckend Billy Jean, was einem Erstklässler damals entgangen sein dürfte, schrie vier Jahre später nach Dirty Diana, womit er den zehnjährigen Hauke auf die Idee brachte sich zum Geburtstag ein Schlagzeug zu wünschen, ein Wunsch, den sein Vater kategorisch ablehnte, da er sich nicht einmal annähernd vorstellen wollte, was dies im Hause Steiner bedeutet hätte. Und nach weiteren vier Jahren schlangentanzte eben jener Sänger zu Black or White, das weiße Hemd über der schwarzen Hose hängend, was in Anbetracht der anstehenden Konfirmation Haukes seinen Vater zu dem lapidaren aber äußerst nachdrücklich vorgebrachten Kommentar veranlasste, dass Hauke nicht einmal im Traum daran denken solle. Darüberhinaus war Hauke der Meinung gewesen, dass er seinen Übertritt ins kirchliche Erwachsenenalter mit der Anschaffung einer Elektrogitarre würdigen sollte, eine Idee, die ihm sein Vater mit nahezu den gleichen Worten wie vor vier Jahren um die Ohren haute.

      Man muss der Gerechtigkeit Genüge tun. Das Verhältnis von Vater und Sohn war, auch wenn es bisher so aussehen mag, durchaus nicht nur von Pulverqualm und gekreuzten Klingen geprägt. Johann Steiner war kein Prolet (vielleicht manchmal, aber wir wollen nicht pingelig sein). Das Schreien hatte lange aufgehört. Und manchmal durchströmte ihn sogar eine Welle väterlichen Stolzes, denn Haukes Leistungen in Latein, Griechisch und Geschichte waren mehr als ausgezeichnet. Es war natürlich eine Selbstverständlichkeit für ihn, den Lateinlehrer, gewesen, vom ersten hodie Tullia et Iulius in forum properant darauf zu achten, dass der Junge nicht nachließ. Und Hauke ließ nicht nach. Im letzten Jahr vor dem Abitur, seine vierte Freundin hieß Helen und zu diesem Thema wird noch mehr zu sagen sein, im letzten Jahr also vor der Abschlussprüfung war Hauke so fit in Latein, dass sein Vater und er sich gelegentlich kleine Frage / Antwort-Spielchen gönnten. Klugscheißerduelle, wie es die Mutter nannte.

      Helen hatte in jeder Hinsicht die Qualitäten eines Sonnensturms und dementsprechend zerzaust und elektrisiert schwebte Hauke damals durch das Paradies seines ausgesternten Universums. Das Mädchen besaß alles, was Eltern eines vor dem Abitur stehenden Sohnes das Fürchten lehrt. Die elterliche Gegenwehr war allerdings chancenlos. Da gab es keine Fenster zuzunageln und keine Zukunftspläne mit gewichtigen Diskussionen zu beschweren. Zum einen, weil Johann Steiner ein Mann war und weder blind


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