Der Hirte von Norderbüll. Thomas Christen

Der Hirte von Norderbüll - Thomas Christen


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sagen, wie ich zum Langerberg 6 komme?“, fragte Hauke.

      „Erste links. Das letzte Haus auf der rechten Seite. Aber wenn Sie zum Bürgermeister wollen, der dürfte jetzt noch nicht da sein“, erklang die unerwartet ausführliche Antwort.

      „Das geht schon in Ordnung. Danke. Auf Wiedersehen.“

      „Moin.“

      Als Hauke die Fahrertür schloss, schreckte er kurz zusammen, denn die Neonlichter der Preisanzeige und das große Hinweisschild erloschen urplötzlich, als hätte das Zuschlagen der Autotür einen Kurzschluss hervorgerufen. Und einen Herzschlag später war auch das Kassenhäuschen dunkel.

      Als er den Langerberg 6 gefunden hatte, schaltete er den Motor aus und blieb einen Moment einfach sitzen. ‚Also’, dachte er, ‚dann geht es jetzt los. Mal schauen.’

      Er klingelte und kurz darauf wurde die Tür von einem beleibten Mann mit Vollbart und Kurzhaarschnitt geöffnet. Dann zeigte ein Finger des Mannes auf ihn und mit sonorer Stimme fragte er lächelnd:

      „Sie müssen der neue Pfarrer sein. Habe ich recht?“

      Hauke nickte und reichte dem Mann die Hand.

      „Kommen Sie herein. Hereinspaziert! Ich habe Sie schon erwartet. Hatten Sie eine gute Reise? Sie können sich gar nicht vorstellen, wie froh wir alle sind wieder einen Pfarrer unter uns zu wissen. Damit dürfte unser aller Seelenheil ja wieder außer Gefahr sein.“

      Er lachte und zog Hauke in den Flur.

      „Tycho Harmsen. Ich bin der Bürgermeister, Herr ...“

      „Steiner“, sprang ihm Hauke zur Seite.

      „Herr Steiner. Genau. Pfarrer Steiner. Wir haben miteinander telefoniert. Kommen Sie, gehen wir in mein Büro. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Einen Tee? Pharisäer? Einen Köm?“

      Hauke lehnte dankend ab.

      Harmsen öffnete eine Tür, ließ ihm kopfnickend den Vortritt und dann sprachen sie zwanzig Minuten über das Wetter, die unbeschreibliche Vorfreude aller im Dorf und Tycho Harmsen versicherte Hauke, dass er ihm jedwede Unterstützung zukommen lasse, die er wünsche. Und einen Köm hatte er ihm dann doch eingegossen.

      „Auch der wärmt die Seele“, lachte er, „und fragen Sie! Fragen Sie, wann immer Sie wollen. Und jetzt zeige ich Ihnen am besten erst einmal ihr neues Heim.“

      Als sie in den Flur traten, öffnete sich auf der anderen Seite eine weitere Tür und eine Frau trat heraus.

      „Darf ich vorstellen, meine Frau Friede. Die beste aller Frauen.“

      Harmsens Ehefrau zog die Stirn in Falten und winkte ab. Und dann ergriff sie mit beiden Händen Haukes Hände und schüttelte sie.

      „Wie wir uns gefreut haben, Herr Pfarrer. Wie sehr wir uns gefreut haben!“

      Einen kurzen Augenblick schaute sie skeptisch an ihm herab und Hauke musste lächeln.

      „Keine Sorge, Frau Harmsen. Im Gottesdienst werden Sie mich nicht wieder erkennen. Aber wenn ich nicht im Dienst bin, ist das sehr viel bequemer.“

      Friede Harmsen wurde einen Moment lang rot und in diesem Augenblick kam eine weitere Frau aus der Tür, die ganz offensichtlich zur Küche führte. Als Hauke erkannte, wer da in den Flur trat, wäre ihm fast das Herz stehen geblieben. Einen Moment lang öffnete er den Mund, nur um ihn sofort wieder zu schließen.

      „Sie hätten mir ruhig sagen können, dass Sie der neue Pfarrer sind“, meinte die junge Frau in einem gespielt spöttischen Ton.

      „Wenn – wenn ich gewusst hätte, dass ...“

      „Sie kennen Lefke, meine Tochter?“, fragte Tycho Harmsen und blickte irritiert von ihr zu Hauke und wieder zurück.

      „Nein, nein ... Ich habe nur ...“

      „Er hätte mich fast überfahren. Ich bin mit dem Fahrrad gestürzt, weil Fiete oder Hein mal wieder ihren Dreck nicht von der Straße gekratzt haben. Und dann hat er mir sehr nett geholfen, die Äpfel aufzusammeln.“

      Sie schenkte ihm ein Lächeln, das ihn schon auf der Straße aus der Fassung gebracht hatte.

      „Aber es ist ja nichts passiert. Soll ich dem Herrn Pfarrer das Pfarrhaus zeigen?“, fragte sie und Hauke lief ein Schauer über den Rücken.

      „Ich mach’ das schon, lass’ mal“, antwortet Harmsen und Hauke hoffte, dass man ihm seine Erleichterung nicht allzu sehr ansah.

      Es nieselte und sie fuhren die kurze Strecke mit dem Wagen. Er hatte die Kirche schon bei der Herfahrt gesehen. Sie lag gegenüber einer Bäckerei. Das kleine Haus daneben musste das Pfarrhaus gewesen sein und hinter dem Dach des Kirchenschiffs hatte man die Überreste einer alten Kirchenruine sehen können. Tycho Harmsen schloss die Tür zum Pfarrhaus auf und führte ihn herum.

      „Alles da! Ihre Sachen sind vor zwei Tagen gekommen. Und wir haben die Zimmer vor einem Monat renoviert. Sofort nachdem wir erfahren haben, dass Sie kommen. Sogar einen neuen Kühlschrank haben wir angeschafft.“

      Und dann überreichte er Hauke die Schlüssel und rieb sich die Hände.

      „Und kommen Sie morgen unbedingt zur Gemeindeversammlung in die Bunte Kuh. Ich werde Sie dort offiziell vorstellen und wir werden danach alles Weitere besprechen. Und jetzt leben Sie sich erst einmal ein wenig ein. Haben Sie noch Fragen?“

      Hauke schüttelte den Kopf und bedankte sich.

      Als Harmsen gegangen war, ließ er sich auf einen der Küchenstühle fallen und starrte minutenlang die gemusterte Plastiktischdecke an. Irgendwann holte er seine Koffer aus dem Auto und stellte sie im Schlafzimmer ab. Sein Bett. Eine Kommode. Der alte Kleiderschrank aus der Garage in Ratzeburg. Nebenan standen sein Schreibtisch und die Bücherkisten. Er hatte sich die Pfarrstelle mit Julia geteilt. Große Sprünge würde er nicht machen können. Und dennoch musste er dringend noch das ein oder andere besorgen. Er holte sein Handy hervor und wählte Sophias Nummer. Als es im selben Moment klopfte, schrak er so heftig zusammen, dass ihm fast das Handy aus der Hand gefallen wäre. Tycho Harmsen steckte den Kopf zur Tür herein und hob entschuldigend die Hand.

      „Verzeihen Sie, Herr Pfarrer. Ich bin auch sofort wieder weg. War noch in der Nähe. Aber ich habe vergessen Ihnen zu sagen, dass das Telefon noch nicht angeschlossen ist. Die Techniker wollen in den nächsten Tagen vorbeischauen. Wir haben im Dorf nicht überall Netz. Die Telefonzelle ist neben der Schule.“ Er verzog entschuldigend das Gesicht.

      „Und fort ist der Bürgermeister.“

      Die Tür fiel ins Schloss und Hauke ließ das Handy langsam in die Tasche seiner Jacke gleiten.

      ‚Gütiger Himmel’, dachte er.

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