Der Hirte von Norderbüll. Thomas Christen

Der Hirte von Norderbüll - Thomas Christen


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      ‚Amor tussisque non celantur’, meinte der Vater, als Hauke eines Abends lächelnd durch das Wohnzimmer levitierte. ‚Kein Husten, Vatter! Amor medicabilis nullis herbis’, antwortete der Sohn schlagfertig und aus dem Lächeln war ein Grinsen geworden.

      Und dann machte Hauke ein 1,5er Abitur und Johann Steiner verabschiedete sich von der Welt, weil der Tod ein Los mit seinem Namen und dem Hinweis Gliomatosis cerebri gezogen hatte. Es dauerte nicht einmal acht Monate. Und die letzten knapp zwei Jahre elterlicher Regierungszeit übernahm die Mutter, sehr wohl wissend, dass es keine Gesetze mehr zu erlassen gab und sich darauf besinnend, das zu tun, was sie schon immer getan hatte: Sanftmut und eine streckenweise übersteigerte Form von Gerechtigkeit vorzuleben. Hauke begann Klavierunterricht zu nehmen und er klimperte sich seine grau dämmernden Gefühle von der Seele, von denen er nicht wusste, wie er sie in den Griff bekommen sollte. Und dass sie ihm dafür ein gebrauchtes Klavier kaufen musste, hatte für seine Mutter außer Frage gestanden.

      Kommen wir zu dem Thema, worauf noch zurückzukommen war. Helen. Helena. Die Sonnenhafte. Paris klaute sie einst Menelaos. Der ist stinkesauer. Zehn Jahre Krieg. Eine epische Belagerung. Ein zur Metapher gewordenes Holzhottehü. Schutt und Asche. Rumms. Und am Ende ist alles wieder so wie es vorher war. T’schuldigung Menelaos, war nicht so gemeint! Und Deiphobos, nachdem Paris das Zeitliche gesegnet hat ... nöö, halb so wild!

      Immerhin – bis zum heutigen Tag wollen oder müssen abertausende von Geschichts- und Literaturstudierenden et interessierte alii unzählige Namen lernen, die sie ob ihrer komplizierten Verstrickungen leider wieder viel zu schnell vergessen oder durcheinander bringen. Nun gut – zu soviel Ruhm hatte es Haukes Helen nie gebracht. Und vor allem steht ihr Name, wie es manchmal so treffend heißt, wohl eher für das Programm.

      Haukes erste Freundin ergriff seine Hand, als er vierzehn war. Tina am Einschulungstag zählt nicht. Er – vor allem aber seine Eltern – hatten, einer gewissen Entwicklungs- und Generationslogik folgend, von Tuten und Blasen keine Ahnung. Der eine, weil er schlichtweg nichts wusste, die anderen, weil sie schlichtweg nichts wissen wollten. Das einzige, was Johann Steiner seinem Sohn auf dem Weg in die Aufklärung überlassen hatte, war ein anatomischer Atlas aus dem Jahr 1953 gewesen. Musculus ischiocavernosus. Et alii. Die Seiten, und so auch jene zum Zwecke der Kenntnisvertiefung des menschlichen Unterleibes, waren übersät gewesen mit lateinischen Begriffen.

      Elke war ein über alle Maßen schüchternes Wesen und genauso verlief auch dieser damalige Monat der Initiation bevor er in Sang- und Klanglosigkeit unterging, was weder sie noch ihn über Gebühr aus der Bahn zu werfen schien.

      T’schuldigung, war schon irgendwie so gemeint, aber – nöö. Und war ja auch nix ... Aber das Wort ‚Erfahrung’ war mit einem durchaus brustschwellenden Inhalt ausgefüllt worden, und als ein halbes Jahr später Charly, ein Mädchen, das er aus dem Konfirmationsunterricht kannte, auf der Lichtung auftauchte, war das schon etwas ganz anderes. Die Erkundungen der menschlichen Physiognomie nahmen fortan erhebliche Fahrt auf. Und solche Fahrten finden naturgemäß und in der Regel unter euphorisierender, schweißtreibender Sonne statt. Etwas anders verhält es sich mit der überaus zarten und recht langsam wachsenden Pflanze namens Vertrauen. Mit der Gabe überirdischer Gelassenheit beschenkte Eltern mögen hier durchaus als geeignete Gärtner herhalten. Aber wo gibt es schon solche? Wer las damals schon psychologische Ratgeber?

      Das so fragile wie verletzbare Blümchen wächst neben den Sandkästen kurzbehoster Geschlechtsgenossen, gedeiht im geflüsterten Geheimnisaustausch in abgelegenen Schulhofecken und muss den ersten Sturmböen pubertierender Zweisamkeit trotzen.

      Und hier beging Charly nach acht Monaten einen unverzeihlichen Fehler. Hauke hatte ihr zu ihrem Geburtstag eine Single geschenkt. Mmm, Mmm, Mmm von den Crash Test Dummies. Und er hatte sie in einem Anfall von piratenhaftem Übermut in einem Schallplattengeschäft gestohlen. Er hätte es ihr besser verschwiegen, aber was will man schon von balzenden Pfauen erwarten. Nach einer Woche wusste es die halbe Clique und damit war Gefahr in Verzug, dass es sich irgendwann bis zu seinen Eltern oder einem Mitglied der Lehrerschaft herumsprach. In den Tagen, die folgten, beteten Haukes Gedanken immer wieder den Titel der gestohlenen Schallplatte herunter und als der Mantra verklungen war, begann er Charly aus dem Weg zu gehen.

      Was folgte waren zwei Jahre gelegentlichen Partyschmusens und harmloser ‚Handarbeiten’. Seine Augen, sein Lächeln, sein Körperbau, seine Leistungen in Sport, alles nicht zu übersehende Leuchtfeuer für die Irrfahrten nach verheißungsvollen Häfen schmachtender, weiblicher Segler.

      Und dann betrat Helen die Bühne. Die beiden Jahre bis kurz nach dem Abitur waren die einzige Zeit im Leben Hauke Steiners, in der die meisten, die ihn näher kannten die zunehmende Befürchtung hegten, er würde sich ganz langsam in ein Hündchen verwandeln. Zumal er, als ein blindes Schicksal die beiden nach den etwas mehr als zwei Jahren unvermutet trennte, weil Helens Vater, der einen Job bei UNICEF in Nairobi angenommen hatte und die Familie nach Kenia zogen, er wochenlang litt wie ein Hund. Immerhin beendete dieser Schicksalsschlag die ständigen und dämlichen Frotzeleien seiner eifersüchtigen Mitschüler. ‚Und? Heute Abend traute Familie?’, Wart ihr spazieren? Mit oder ohne Leine?’, ‚Meine Fresse! Wo klaut man denn um diese Jahreszeit solche Melonen?’ Graumäusige Neidhammel! Und Neid war seit jeher eine entlarvende Art der Anerkennung. Meistens hielt er den Mund und verkniff sich verbale Retourkutschen, aber die Bemerkungen ärgerten ihn maßlos. Einmal hätte es um ein Haar eine Prügelei gegeben.

      Wie die meisten seiner Mitschüler hatte er den Wehrdienst verweigert und seinen Zivildienst leistete er in einem Behindertenwohnheim des IJGD in Lübeck ab. Auf der Station auf der er arbeitete gab es noch zwei andere Männer. Der Rest waren Frauen gewesen. Er hatte sich das nicht ausgesucht, aber im Grunde war es seit seiner Geburt nie anders gewesen. In den letzten Jahren auf dem Gymnasium hatte er regelmäßig Lateinnachhilfe gegeben und seine Schüler waren ausnahmslos weiblichen Geschlechts gewesen. Obwohl es in seiner Klasse genug männliche Exemplare gegeben hätte, deren Leistungen in Latein genau das widerspiegelten, was man dieser Sprache nachsagte: das sie tot sei.

      Er sah das ganz und gar nicht so. Und diese Ansicht trug ein wenig dazu bei, dass seine Studienwahl auf das Fach Theologie fiel. Vor allem aber waren es Neugier und die Prägung, die er durch seine Mutter erhalten hatte. Gibt es Gott? Wenn ja, wer oder was ist er? Wie lebt man christliche Werte in einer Welt aus rationaler Wissenschaft und gewinnstrebender Wirtschaft? Warum suchte der Mensch seit Urzeiten das Transzendente? Bisher hatte Gott nicht an jeder Ecke auf ihn gewartet, ein Gedanke, der ihn nicht weiter umtrieb. Gott war wie das Wetter, donnernd, wenn das eigene Gewissen zwickte und himmelblau, wenn man sein Menschsein als etwas Großartiges empfand. Wenn es ihn gab, wenn er ihn hinter irgendeiner Häuserecke verborgen beobachtete, dann wäre es einen intensiveren Versuch wert, ihn aufzuspüren und ein paar Worte mit ihm zu wechseln.

      2005 machte er seinen Abschluss an der Universität in Hamburg und fünfzehn Monate vorher hatte er Julia kennen gelernt. Sie studierte ein Semester über ihm und sie war ihm immer wieder einmal auf einem der Institutsflure über den Weg gelaufen. Lächelnd und mit einem flüchtigen ‚Hallo’ auf den Lippen.

      Hier muss – einmal mehr – kurz innegehalten werden, um der Vita Haukae noch ein Stück näher zu kommen. Ein mit den Gaben Gottes beschenkter Adonis mutiert über Nacht nicht zu einem hässlichen Alberich. In unserem Fall ist Adonis noch nicht einmal aktiv auf der Suche nach seiner Aphrodite. Glückspilze hüpfen nicht von alleine in die Körbe der Sammler, wobei es an dieser Stelle wohl besser Sammlerinnen heißen müsste. Nein, Pilze werden gefunden.

      In gewisser Weise knüpften Haukes Studienjahre nahtlos an seine Hoch- und Tiefzeiten als Jugendlicher an. Nur dass sie weniger von zitternder Schüchternheit und vorsichtigem Tasten geprägt waren. Jede kleine, erlebte Großartigkeit ist ein diamantener Stein im Fundament des Selbstbewusstseins. Wenn denn die Kette derartiger Ereignisse ausreichend lang genug ist. Auch das liegt in der Natur des menschlichen Jahresammelns. Um es auf den Punkt zu bringen: Seine Studienzeit war auch von etwas geprägt, dass viele, aber bei weitem nicht alle ihre unbegrenzte Freiheit genießenden Studiosi erleben, etwas, mit dem die im Fachbereich Rechtswissenschaften schuftenden Studiosi für ihr späteres Berufsleben zwar in Berührung gekommen sein müssen, ohne es – wie gesagt


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