Der Hirte von Norderbüll. Thomas Christen
Auch wenn der ein oder andere dröge Apostel diesen Begriff mit der Vorstellung eines der Theologie zugewandten Menschen nicht deckungsgleich bekommt.
Großer Gott!, müsste man sagen, denn immerhin war jener es, der es erst dazu kommen ließ.
Also. Julia fand ihn. Zumindest machte sie den ersten Schritt. So ein wenig wie, halb zog sie ihn, halb sank er hin. Julia war nicht Helen. Aber das Wenige, was ihr an äußerer Vollendung fehlte, machte sie spielend mit Charme und einer Offenheit wett, die eine ganze Armee entwaffnet hätte. Sie verabredeten sich im Schanzenviertel und als sie beide wenige Stunden später in Julias Wohnung landeten, hatten sich beide mehrfach gefragt, warum es eigentlich erst jetzt dazu gekommen war.
Waren Sie schon einmal verliebt? Natürlich waren Sie schon einmal verliebt! Verzeihen Sie! Die Frage ist dumm oder etwas selbstgefällig. Aber was hier gemeint ist, betrifft nicht so sehr das Gefühl, welches sich einstellt, wenn man sommertags eine köstliche Brause trinkt, die einem dazu auch noch in der Nase kribbelt. Gemeint ist das den ganzen Körper durchströmende Glühen nach dem Genuss eines vierunddreißig Jahre alten Port Ellen, die Gewissheit, dass man einen solchen Whisky wahrscheinlich kein zweites Mal erleben wird. Und es besteht ohne Zweifel Einigkeit darüber, dass letzterer, und nicht umsonst Wasser des Lebens genannter, nichts für kleine Kinder oder Heranwachsende ist. In aller Mehrdeutigkeit des folgenden Satzes: Sie können ihn sich schlicht noch nicht leisten!
Es betrifft das überwältigende, jede Zelle verrückende Gefühl, dieses Mal alles richtig zu machen, was man irgendwann einmal verbockt hat. Und damit dieses Gefühl erst aufkommen kann, muss man wissen, dass man und was man damals verbockt hat. Die erregende Vorahnung, dass man (einvernehmlich!) ineinander aufgehen wird wie Sahne in friesischem Tee, den Winden und Stürmen des Lebens trotzend, den einen Richtigen gefunden zu haben.
Nach dem Diplom bot der Professor für Kirchengeschichte Hauke eine Promotion an und in Haukes Kopf begann ein Uhrwerk wochenlang zu arbeiten. Julia mischte sich nicht ein. Sie wollte alles Mögliche sein – nur kein Sand im Getriebe seines Lebens. Der Einfluss konstantinischer Schenkungen und Zuwendungen an die christliche Kirche auf deren weitere Entwicklung und Selbstbild. ‚Ein interessantes Thema, Steiner. Aber vielleicht finden wir ja noch ein viel besseres.’
Nach sechs Wochen Bedenkzeit lehnte Hauke dankend ab und Julia und er zogen nach Bad Kleinen, von wo aus sie ein Vikariat in Schwerin und er eines in Wismar antraten. Im Juli 2012 heirateten sie und nach einem weiteren Jahr bewarben sie sich auf eine frei gewordene Pfarreistelle in Ratzeburg, von der aus sie sich die Gemeindearbeit mit zwei halben Stellen teilten.
Ach, herrje ... Amare et sapere vix deo conceditur.
Es war nie anders.
Amor hatte sein Werk vollbracht. Und dann forderte er seinen Pfeil zurück, ohne, dass sich beide daran erinnern konnten, wann das geschehen war, und der himmlische Regen verschwand in den Gullis des Alltags. Es dauerte vier Jahre und diese Jahre seien kurz angerissen, denn über Unerquickliches zu erzählen ist unerquicklich. Ging es doch bisher vor allem über die glückseligen Momente auf den Gipfeln des Lebens. Auch wenn Hauke, anders als die, die sich den Aufstieg zu solchen Gipfeln erarbeiten müssen, diese Gipfel wohl eher mit der von Gott erbauten Seilbahn geburtsgegebener Privilegien erklommen hatte.
Wolken zogen die grünen Hänge herauf. Das Feuer brannte herunter. Die tägliche Arbeit hagelte nicht selten in die noch verbliebene Glut. Der Trott trampelte. Hauke war unfruchtbar (und als er das ärztliche Ergebnis erhielt, schämte er sich für den kurzen Augenblick, in dem er gedacht hatte: Mein Gott, hätte ich das gewusst, wäre mir in der Vergangenheit manches panisch-verzweifelte Warten erspart geblieben), beide bestätigten sich, dass das alles nicht so schlimm sei, denn eine Beziehung bestünde aus so viel mehr und beide verheimlichten sich, dass sie dennoch nicht damit umgehen konnten. Reibereien, Streit, Aussprachen, Versöhnungen und neue Vorwürfe. Stürme, die zweimal mehrere Teller das Leben kosteten und Flaute an einem Ort, an dem sie beide sie eigentlich niemals vermutet hätten. Aber auch darüber schwiegen sie.
Als Hauke Sophia kennenlernte und es nicht einmal verheimlichte, sprach Julia von Auszug. Es kam nicht einmal zu irgendwelchen Auseinandersetzungen, denn dazu fehlte beiden die Energie. Aber der Auszug sollte sich anders gestalten, als Julia es gemeint hatte.
Denn Hauke beging den bis dato größten Fehler seines Lebens. Das Wort Scheidung war noch nicht gefallen, auch wenn es sichtbar unsichtbar überall herumhing. So viel Einigkeit herrschte dann doch noch zwischen den beiden, dass sie sich im Klaren darüber waren, dass man dieses Thema nur zivilisiert angehen sollte. Noch waren sie das Pfarrersehepaar, auch wenn einige der älteren Damen aus dem sich allwöchentlich treffenden Frauenkreis zu tuscheln anfingen. ‚Ich bin mir ganz sicher, sie haben sich gestritten. Es war bis auf die Straße zu hören.’ ‚Wenn da mal nichts im Busch ist!’
Und anstatt dem gesunden Menschenverstand, dem Sinn für die Umstände und der Zeit einstweilig die Führung zu überlassen, wurde Hauke leichtsinnig und ein schwelender Groll und das ein oder andere altbekannte Gefühl ließen ihn manchmal trotzig wie ein Kind werden. Denn es dauerte nicht lange und nicht nur der morgendliche Nebel über dem Domsee und die Hasen im abendlichen Park neben dem Dom bekamen ihn und Sophia zu sehen. Das Gerede in der Gemeinde, vor allem unter den Frauen, die Männer hielten sich vornehm zurück, war nicht mehr zu überhören. ‚Der Herr Pfarrer hat eine Neue!’, ‚Was soll man denn davon halten?’ ‚Da kann ich doch meine Kinder nicht mehr hinschicken!’ ‚Eine Schande ist das!’
Das Schreiben des Landeskirchenamtes in Kiel ließ nicht lange auf sich warten.
Haukes Arbeitgeber berief sich in aller Deutlichkeit auf den allerhöchsten aller Arbeitgeber, die höchste Instanz und teilte ihm mit, dass man sich außerstande sähe, ihm weiterhin die Betreuung der Gemeinde zu überlassen. Es handele sich um einen irreparablen Vertrauensbruch und eine eklatante Missachtung des seinem Amt innewohnenden Vorbildcharakters. Man sähe sich daher gezwungen ... Und so weiter, und so weiter.
Er wehrte sich nicht einmal. Was hätte er auch sagen können? Vielleicht hätte er ein paar Statistiken über die Zahlen von unehelichen Kindern bei klerikalen Würdenträgern vorlegen ... Ach was! Unsinnig und zwecklos! Statistiken waren ein Mittel gewisse Sachverhalte zu belegen. Auch die hatte sich Gott ausgedacht. Irgendwann. Vielerorts wurden sie sogar benutzt. Seine Subalternen jedoch übergaben sie, je nachdem, was sie belegten, lieber der Dunkelheit des Schweigens.
Die Zeit aber, die die Kinder Israel in Ägypten gewohnt haben, ist vierhundertunddreißig Jahre. Da dieselben um waren, tja ... 2. Mose, 12-40.
Auszug. Nach vier, nicht vierhundert Jahren.
Schafe gab es dort oben auch. Viele Schafe ...
Er hatte mit Sophia gesprochen und sie hatte es zähneknirschend zur Kenntnis genommen.
Das Gewitter konnte sich nicht entschließen über sie hereinzubrechen, oder aber weiterzuziehen. Den Mais beutelnde Windböen und immer wieder ein paar auf die Windschutzscheibe klatschenden Regentropfen. Vor ihm, auf der linken Seite, im dämmrigen Schummerlicht des Nachmittags, erschien die Leuchtreklame einer Freien Tankstelle. Hauke warf einen kurzen Blick auf die Tankanzeige und ließ den Wagen dann an eine der Zapfsäulen rollen. Ob er den Wagen in den nächsten Tagen brauchen würde, wusste er nicht. Aber besser so, als irgendwo in diesem grünen Meer zu stranden. Er war der einzige Kunde. Nachdem er den Tank wieder verschlossen hatte, angelte er sich seine Lederjacke vom Nachbarsitz und ging ins Kassenhäuschen. Hinter dem Tresen saß ein älterer Mann auf einem Hocker und las Zeitung. Als das Klingeln der Tür verebbte, faltete er umständlich die Zeitung zusammen, stand auf und schlurfte zur Kasse.
„Moin“, nuschelte er und sah Hauke über seine Brille an.
„Die Zwei“, antwortete Hauke und zückte seine Brieftasche.
„Was Sie nicht sagen! Da wär’ ich jetzt bei dem Heidenbetrieb nicht drauf gekommen. Macht Zweiundvierzigeinundachtzig.“
„Mit Karte“, meinte Hauke und legte die EC-Karte auf den Tresen neben die Schokoriegel.
„Nee, Karte is’ nich’. Das Gerät funktioniert nich’“, erwiderte