Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith

Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith


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und Systembiologie

      Heute stellt sich die Frage, ob die derzeit üblichen Standard-Untersuchungen ausreichen, um die biologischen Prozesse in ihrer lebendigen Dynamik zu verstehen. Gelten Erkrankungen auch noch als unerklärlich, wenn z. B. neue Technologien eingesetzt werden, die innerhalb kürzester Zeit mehr als 60 verschiedene biochemische Stoffwechselwege messen können? Analog zur Untersuchung des Genoms (Erbgut, die DNA), der Genomik, kann die Untersuchung des Metaboloms, die Metabolomik, charakteristische Stoffwechsel-Eigenschaften einer Zelle bzw. eines Gewebes oder Organismus identifizieren und quantifizieren. Der „-omik“-Ansatz, (der noch weitere -omiks umfasst) liegt der Systembiologie zugrunde. Das Ziel ist, das dynamische Netzwerk ausgehend von der Zellebene biochemisch zu verstehen.

      Das US-amerikanische Naviaux Lab, das zu dem Mitochondrial and Metabolic Disease Center an der University of California San Diego School of Medicine/UCSD gehört und von Prof. Robert K. Naviaux geleitet wird, gehört zu den Vorreitern der Metabolik-Forschung:

      „Unserer Ansicht nach liegen Chemie und Metabolismus allen Aspekten der menschlichen Biologie zugrunde. Unsere Studien zeigen, dass die Metabolomik als neue Linse genutzt werden kann, um unerwartete biologische Zusammenhänge aufzudecken, die vorher unsichtbar waren.“ [Ü.d.A.] E/1 Naviaux

      Experimente und Studien, die auf dem Verständnis der Metabolomik (und weiterer „-omiks“) basieren, zeigen einerseits, wie Veränderungen im Stoffwechsel zu Veränderungen im Verhalten und in der Funktionsfähigkeit führen und andererseits, wie innovative Behandlungsansätze regulierend auf die gefundenen Stoffwechsel-Entgleisungen einwirken können.

Wir werden sehen, dass chronische „medizinisch unerklärliche“ Beschwerden und Verhaltensweisen weit besser – wenn auch noch nicht vollständig – verstanden werden können, wenn regulatorische Prozesse auf molekularer Ebene untersucht werden.

      Im vorliegenden Buch werden drei übergreifende Hypothesen zur Entstehung chronischer/multisystemischer Erkrankungen vorgestellt:

       Martin L. Pall: Der Nitrosative Stress-Zyklus

       Robert K. Naviaux: Die Reaktion auf Zellgefahren (Englisch: Cell danger response CDR)

       Die Mastzell-Forschung, die in Deutschland und international von mehreren Wissenschaftlern erforscht wird.

      Diese Hypothesen erklären die Stoffwechsel-Entgleisungen, die zu chronischen Erkrankungen führen, aus unterschiedlichen, sich ergänzenden Perspektiven.

Gemeinsam ist den drei Hypothesen, dass übermäßiger Stress (zu viele/zu starke biologische, chemische, psychosoziale Stressreize) am Beginn der chronischen Erkrankungen stehen.

      Daher wird die breite Palette von unterschiedlichen Reiz-, bzw. Stressfaktoren, denen wir heute alltäglich ausgesetzt sind, in TEIL 2 ausführlich behandelt. Zahlreiche Faktoren, z. B. Luftschadstoffe oder Schwermetalle, schädigen unseren Organismus, ohne dass wir deren Einfluss direkt sinnlich wahrnehmen könnten. Das führt zu einem allzu sorglosen Umgang.

      Prof. Martin L. Pall: Der Nitrosative Stress-Zyklus

      Der renommierte US-amerikanische Wissenschaftler Prof. Martin L. Pall, emeritierter Professor für Biochemie und Grundlagenwissenschaften der Medizin an der Washington State University, spricht von einem neuen – einem zehnten Paradigma für die Krankheitsentität multisystemischer (Komplex-)Erkrankungen. Er beschreibt in seinem 2007 erschienenen Buch Explaining ‘Unexplained Illnesses’: Disease Paradigm for Chronic Fatigue Syndrome, Multiple Chemical Sensitivity, Fibromyalgia, Post-Traumatic Stress Disorder, and Gulf War Syndrome and Others mehrere Ausprägungen multisystemischer Erkrankungen. Es erschien bisher nur in englischer Sprache. Auf Deutsch lautet der Titel: Die Erklärung „ungeklärter Krankheiten“. Ein Krankheitsparadigma für Chronisches Müdigkeitssyndrom, Multiple Chemikalien-Sensibilität, Fibromyalgie, Posttraumatische Belastungsstörung, das Golfkriegssyndrom und weitere. E/2 Pall

      Prof. Pall beschreibt u.a. folgende weit verbreitete, aber selten korrekt diagnostizierte multisystemische Ausprägungen:

      Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Erschöpfungs-Syndrom/ME/CFS

      mit den Merkmalen: Vitalitätsverlust und ausgeprägter Regenerationsbedarf, selbst nach scheinbar wenig anstrengenden Tätigkeiten.

      Multiple Chemikalien Sensitivität/MCS

      Individuell heterogene Hypersensitivität gegenüber flüchtigen und flüssigen Chemikalien, Duftstoffen, Abgasen, Lösemitteln oder Zigarettenrauch.

      Fibromyalgie-Syndrom/FMS

      Leitsymptome sind: Schmerzen, Schlafstörungen und Erschöpfungsneigung.

      Post-Traumatische Belastungs-Störung/PTBS, bzw. „Komplexe PTBS“

      Unter (K)PTBS wird eine verzögerte Reaktion auf eine oder mehrere außergewöhnliche Bedrohungen verstanden. Leitsymptome sind: Nachhallerinnerungen, Übererregungssymptome und Vermeidungsverhalten.

      PTBS gilt in der etablierten, an den Hochschulen vermittelten Medizin als psychische Erkrankung. Aus Sicht der Systemischen Epimedizin, die weiter unten vorgestellt wird, ist auch PTBS eine „Ganzkörper“-Erkrankung. PTBS unterscheidet sich in der Entstehung (fachsprachlich Ätiologie), nicht jedoch in der gemeinsamen Endstrecke in Bezug auf biochemische Merkmale von ME/CFS, MCS und FMS.

      Der „Nitrosative Stress-Zyklus“

      Prof. Pall erläutert detailliert, dass diese multisystemischen Erkrankungen, die bislang in unterschiedlichem Ausmaß durch übliche diagnostische Raster fallen, ursächlich durch den komplexen „Nitrosativen Stress-Zyklus“ (auch „Biochemischer Teufelskreis“) erklärbar sind – und behandelt werden können!

      Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen/EmKE

      Folgende drei Krankheits-Ausprägungen:

       Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Erschöpfungs-Syndrom/ME/CFS

       Multiple Chemikalien Sensitivität/MCS und das

       Fibromyalgie-Syndrom/FMS

      werden im vorliegenden Buch unter der Bezeichnung „Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen/EmKE“ zusammengefasst. Diese Auswahl ist exemplarisch zu verstehen, wir werden sehen, dass es mehrere verwandte Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen gibt.

      Die Bezeichnung „Erworbene Multisystem-Erkrankungen“ (ohne „Komplex“) wird als allgemeiner, beschreibender Begriff für im Laufe des Lebens erworbene „Ganzkörper“-Erkrankungen verwendet. Viele Zivilisations-Erkrankungen lassen sich als Erworbene Multisystem-Erkrankungen beschreiben.

      Die drei EmKE (und verwandte Erkrankungen) sind an Komplexität kaum zu überbieten, die Beschwerden gelten in unterschiedlichem Ausmaß als „medizinisch nicht erklärbar“ und jede dieser Erkrankungen kämpft um ihre Anerkennung.

      Abb. E/1 Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen/EmKE

      Cell-Danger-Response (CDR)/Die Antwort auf Zellgefahren

      Prof. Robert K. Naviaux ist Gründer und Co-Direktor des zuvor schon erwähnten Mitochondrial and Metabolic Disease Center/Deutsch: Zentrum für Mitochondriale und Metabolische Erkrankungen an der US-amerikanischen University of California San Diego School of Medicine/UCSD.

Prof. Naviaux und sein Team konnten zeigen, dass die zelluläre Antwort auf umweltbedingte Stressoren trotz unterschiedlichster Auslöser homogen ist.

      Diese uniforme Antwort ist die „Cell danger response“, bei der die Mitochondrien – das sind energieproduzierende Organellen in unseren Körperzellen – in festgelegter Reihenfolge drei unterschiedliche Phasen durchlaufen. Die Wucht heutiger Stressoren blockiert diese Abläufe in verschiedenen Stadien, das führt zu der „Unfähigkeit“ auf Zell-, Gewebe- oder Organebene auszuheilen. Diese unvollständig ablaufenden Heilungsprozesse führen,


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