Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith

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Krise des Immunsystems

      Jetzt ist es an der Zeit, endlich die Dramatik der immunologischen Krise wahrzunehmen, die allmählich, aber absehbar unser (Über-)Leben gefährdet. Nicht nur unsere Lebensräume sind bedroht und unser wirtschaftliches Überleben – die Art, wie wir leben richtet sich gegen das Leben selbst.

Die Krise unseres Immunsystems führt zu einem massiven Verlust an Vitalität in der industrialisierten Bevölkerung. Sie ist ebenso real wie andere Krisen und erfordert beherztes und kooperatives Handeln von vielen.Erworbene Multisystemische Erkrankungen beruhen auf Fehlsteuerungen, die im Laufe des Lebens entstehen. Epigenetische Studien zeigen, dass mit deren Zunahme absehbar auch zukünftige Generationen geschwächt geboren werden.

      Systemische Epimedizin

      Die aktuelle internationale Forschung zeigt den systemischen Netzwerkcharakter moderner Erkrankungen und stellt das konventionelle Paradigma, dass auf einen definierten Reiz (Ursache) eine definierte Reaktion (Wirkung) erfolgt, in Frage. Dieses Paradigma ist zweifellos die Grundlage unserer erfolgreichen akutmedizinischen Versorgung (Patient ist gestürzt – Knochen ist gebrochen: OP und/oder Gipsverband); es versagt jedoch bei komplexen systemischen, chronischen Erkrankungen.

Der Netzwerkcharakter der Erworbenen Multisystem-Erkrankungen wird unter dem Konzept „Systemische Epimedizin“ zusammengefasst. Diese Bezeichnung wird neu eingeführt und verweist auf die komplexen systemischen Wechselbeziehungen zwischen Umwelt und Genen, die sich in den Stoffwechselprozessen und -produkten widerspiegelt und durch Mitochondrien gesteuert wird. Der Begriff lehnt sich an die in Kapitel 28 beschriebene Wissenschaftsdisziplin der Epigenetik an. Die Systemische Epimedizin basiert auf einem systemmedizinischen Krankheitsverständnis, wie es z. B. in großangelegten Förderprojekten wie e:med vom Bundesministerium für Bildung und Forschung vorangetrieben wird.
Der Begriff „Systemische Epimedizin“ wird als gemeinsamer Begriff vorgeschlagen, um auf mehrere Wissenschaftsdisziplinen und Forschungsansätze zu verweisen, die von Relevanz für das Verständnis multisystemische Komplex-Erkrankungen sind. Es geht um einen Ideenpool, der sehr unterschiedliche Ansätze miteinander in Beziehung setzt.

      Die Systemische Epimedizin ist eine Netzwerkwissenschaft

      Sie umfasst folgende Wissenschaftsdisziplinen:

       Die Mitochondrien-Medizin

       Genetik und Epigenetik

       Die Psycho-Neuro-Endokrino-Immunologie

      Die Systemische Epimedizin ist keine neue Wissenschaftsdisziplin. Vielmehr wird unter diesem Leitbegriff Wissen transdisziplinär und in Bezug auf komplexe Krankheitsbilder vernetzt. Dazu gehören die genannten Schlüsseldisziplinen, alle drei bezeugen den immensen Einfluss heutiger Umweltfaktoren auf unsere Gesundheit.

Die molekulare PathogeneseDie „molekulare Pathogenese“ untersucht die pathologischen Veränderungen, die als Reaktion auf Umwelteinflüsse auf molekularer Ebene unter Beteiligung spezifischer Gene, Proteine und Signalwege entstehen.

      Integrierte Bestandteile innerhalb dieser übergreifenden Schlüsseldisziplinen sind:

       Die Exposom-Forschung inklusive „Early life Exposom-Stress“. Die Exposom-Forschung wurde 2015 eingeführt. Das Exposom stellt die Gesamtheit der (Umwelt-)Faktoren dar, denen wir lebenslang ausgesetzt sind, und die in bislang unterschätzter Weise zur Gesundheit oder zum Krankwerden beitragen. Das Exposom als Gesamtheit der Umwelteinflüsse ist das Gegenstück zum Genom (Gesamtheit unseres Erbgutes).

       Die Stress- und Entzündungsforschung, inklusive early life stress/„developmental origins of health and disease“ (auf Deutsch: Frühe Programmierung von Krankheit und Gesundheit).

       Die Evolutionsmedizin: Unser heutiger Organismus ist das dynamische Zwischenergebnis einer fortdauernden Evolution.

       Die Gendermedizin/Geschlechtsspezifische Forschung.

       Die Personalisierte Medizin (auch Präzisionsmedizin)

       Die Klinische Umweltmedizin, inkl. Umwelt-Zahnmedizin.

       Die Forschungen zum sogenannten Nitrosativen Stresszyklus von Prof. Martin L. Pall.

       Die Forschungen zu der sogenannten Antwort auf Zellgefahren (Englisch: Cell Danger Response) von Prof. Robert Naviaux.

       Die Mastzellforschung. Mastzellen (auch Mastozyten) gehören zu den weißen Blutkörperchen (Leukozyten). Sie sind Teil der körpereigenen Immunabwehr.

      Abb. E/2 Systemische Epimedizin

      Die Mehrzahl dieser (Forschungs-)Disziplinen war bis vor wenigen Jahren entweder noch völlig unbekannt oder zumindest nicht weit verbreitet. In jeder dieser jungen Disziplinen explodiert die Anzahl der Veröffentlichungen, die von bedeutender Relevanz für das Verständnis der EmKE sind.

Die Mehrzahl dieser (Forschungs-)Disziplinen war bis vor wenigen Jahren entweder noch völlig unbekannt oder zumindest nicht weit verbreitet. In jeder dieser jungen Disziplinen explodiert die Anzahl der Veröffentlichungen, die von bedeutender Relevanz für das Verständnis der EmKE sind.

      Individualisierte Diagnostik und Therapie

      Für Patienten ist wichtig zu wissen, dass es aus Sicht der Systemischen Epimedizin für komplexe Erkrankungen keinen einheitlichen diagnostischen und therapeutischen Pfad geben kann. Die diagnostischen, wie auch die therapeutischen Optionen sind, selbst bei Patienten, die unter dem gleichen Diagnose-Begriff klassifiziert sind, so individuell wie unser Fingerabdruck. Zunehmend werden Patienten nach diagnoseübergreifenden medizinischen Merkmalen in Subgruppen eingeteilt und behandelt – das ist der Ansatz der sogenannten Personalisierten Medizin. Dieser Ansatz wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert:

      „Die Systemmedizin gilt als Schlüssel zu einer modernen [personalisierten] Medizin, die sich an der molekularen Signatur von Erkrankungen orientiert, statt an der Einteilung nach Krankheitsbildern oder spezifischen Organen festzuhalten.“ [Ergänzung durch die Autorin] E/12 Sys-med

      Unsichtbare Frauen

      Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert lautet der Titel des Buches von Caroline Criado-Perez, das 2020 den NDR Kultur Sachbuchpreis erhielt. Mit dem Begriff „gender data gap“ – in Anlehnung an den Begriff „gender pay gap“, also die Minderbezahlung von Frauen bei gleicher Qualifikation – weist die Autorin auf die Geschlechterlücke in der Datenerhebung hin. Sie beschreibt die darauf beruhende Diskriminierung und unsichtbare Verzerrung, die sich stark auf das alltägliche Leben von Frauen auswirkt.

      Bei den EmKE – und auch bei den weiteren in diesem Buch beschriebenen verwandten Erkrankungen – überwiegt, mit durchschnittlich 75–80%, bei weitem der Frauenanteil. Weder in der Forschung noch in der Klinik wird dieser Sachverhalt ausreichend berücksichtigt.

      Abb. E/3 Bei mulltisystemischen/„Ganzkörper“-Erkrankungen ist die „Frauenquote“ übererfüllt!

Die berichtete Fehl- und Mangelversorgung multisystemischer Erkrankungen basiert unter anderem darauf, dass unklare Symptome in einer männerdominierten Medizin gerne als „weibliche Unpässlichkeiten“ bagatellisiert werden. Diese diskriminierende Tatsache hat weitreichende Folgen.

      Wann ist ein Buch fertig?

Üblicherweise ist ein Fachbuch fertig, wenn ein Thema umfassend und möglichst vollständig erfasst wurde. Das Buch, das Sie in Ihren Händen halten – oder auf dem Tablet lesen – ist jedoch unfertig. Es ist eine Ausgangsbasis – und kein Endprodukt.

      Jedes einzelne Kapitel dieses Buches ist die Essenz eines Universums: Zum Thema Stress gibt es Tausende von Publikationen, ebenso zu Umweltfaktoren, zum Mikrobiom und zu jedem andern beliebigen Thema. Und jedes dieser Themen wartet ständig mit neuen


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