Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith

Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith


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(CDR) ist die evolutionär konservierte Stoffwechselantwort, die Zellen und Wirte vor Schaden schützt. Sie wird durch das Zusammentreffen mit chemischen, physikalischen oder biologischen Bedrohungen ausgelöst, die die zelluläre Kapazität zur Homöostase übersteigen.“ [Ü.d.A.] E/3 Naviaux

Der Zustand der Mitochondrien entscheidet darüber, ob und wie Heilungsprozesse geschehen. Gestresste Mitochondrien, die dauerhaft im Verteidigungs-Modus verbleiben, führen zu chronischen Erkrankungen.Diese Erkenntnisse zur Cell Danger Response sind bahnbrechend und haben das Potenzial, die Sichtweise auf sämtliche chronische Erkrankungen zu revolutionieren.

      Die EmKE-typischen „Fehl“steuerungen können als adaptive, bzw. kompensatorische, sinnvolle Notfallstrategie der Mitochondrien auf zu viele und/oder zu starke Einflussfaktoren verstanden werden. Derzeit erforscht Prof. Naviaux mit Hilfe systembiologischer Verfahren Therapie-Optionen, um Fehlsteuerungen und Blockierungen der CDR wieder in physiologische Prozesse zu überführen. Erste Erfolge wurden publiziert.

      Mastzellforschung

      Die dritte der im vorliegenden Buch vorgestellten Hypothesen für die Entstehung chronischer Erkrankungen liefert die Mastzellforschung. Es gibt frappante Überlappungen zwischen multisystemischen Komplex-Erkrankungen und der sogenannten „Mastzell-Aktivierungs-Erkrankung“. Mastzellen sind weiße Blutkörperchen (Leukozyten). Die Erkenntnis, dass Mastzellen durch ihr nahezu unüberschaubares Wirkspektrum als zentrale Schaltstellen des Immunsystems fungieren, ist noch jung, die Mastzellforschung ist erst in den letzten Jahren zu einem wichtigen interdisziplinären und internationalen Forschungsthema geworden.

      Die Corona-Pandemie

      Die Fertigstellung dieses Buches steht im Zeichen der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten COVID-19-Pandemie. Im Februar 2020 erhielt die neue Corona-Erkrankung ihren englischen Namen „Coronavirus Disease 2019“/COVID-19. Seit Beginn der Pandemie sind weltweit über eine halbe Million Studien zu COVID-19 veröffentlicht worden.

80 % der Infizierten zeigten moderate oder gar keine Symptome. Doch schon im Laufe des Jahres 2020 entpuppte sich die akute Form der Lungenkrankheit als Multiorgan-Erkrankung. Es kam u.a. zu Entzündungen in den Blutgefäßen, zu neurologischen Erkrankungen wie Enzephalopathien, zu Nierenfunktionsstörungen und zu Magen-Darm-Erkrankungen.

      Das Robert-Koch-Institut zählt seit Beginn der Pandemie über 3,7 Millionen nachgewiesene Infektionen mit Sars-CoV-2 in Deutschland. (Stand Juni 2021). Die tatsächliche Gesamtzahl der Infektionen dürfte höher liegen. Weltweit registrierte die WHO bislang mehr als 175 Millionen bestätigte Covid-Fälle.

      Das Post-COVID-19-Syndrom

      Patienten, die COVID-19-bedingt auf der Intensivstation behandelt wurden, erholen sich nur langsam, leiden unter Langzeitfolgen, einige versterben. Erstaunlicherweise leiden jedoch auch Menschen unter Spätfolgen, die gar keine oder nur moderate akute Symptome hatten, sportlich und jung oder mittleren Alters (zwischen 35 und 49) sind und keine Vorerkrankungen hatten. Während höheres Alter und Vorerkrankungen nachvollziehbare Risiken für den schwereren Verlauf der akuten Infektion darstellen, sind die Vulnerabilitäts-Merkmale für diese unerwarteten, langanhaltenden Manifestationen unklar.

      Experten schätzen, dass der Anteil von Patienten mit Langzeitbeschwerden ca. 13 % aller COVID-19-Patienten ausmacht, das entspricht derzeit [Juni 2021] in Deutschland ca. 480.000 und weltweit mehr als 16 Millionen Menschen. Der Frauenanteil überwiegt, auch Kinder sind betroffen.

      Im Januar 2021 vermerkte die Weltgesundheitsorganisation/WHO den „Post-COVID-19-Zustand“ (auch, vor allem im englischsprachigen Raum: „Long-Covid-Syndrom“) als neuartige Erkrankung mit dem (Zusatz-)Diagnosecode U09.9 und empfahl, dass alle Patientinnen und Patienten Zugang zu einer Nachsorge haben sollten.

Mit dem Post-COVID-19-Syndrom entsteht vor unseren Augen gerade ein Paradebeispiel einer neuartigen, erworbenen, multisystemischen Komplex-Erkrankung.

      Diese Langzeit-Subgruppe ist heterogen. Die üblichen Standard-Untersuchungen zeigen keine Befunde. Post-COVID-19-Patienten berichten über langanhaltende, multisystemische Beschwerden. In Studien werden bis zu 200 Symptome benannt. Darauf ist unsere nach Fachdisziplinen ausgelegte Gesundheitsversorgung nicht ausgelegt. Post-COVID-19-Patienten erleben nun die gleichen Hürden und Hindernisse wie ME/CFS-Patienten: Verharmlosung der Symptome, fehlende Anerkennung, Stigmatisierung (trotz erwiesen COVID-19-Infektion), keine Anlauf- und Beratungsstellen, fehlende Therapieangebote, soziale Isolation und sozialrechtliche Minderversorgung. Behandler sind hilflos, es gibt kein Behandlungskonzept. Die Notfallversorgung ist nicht gewährleistet.

Für ME/CFS-Patienten könnte die Corona-Pandemie zum Game-Changer werden: Geschätzt 2 % aller positiv Getesteten entwickelt ME/CFS. Das entspricht derzeit mindestens 74.000 Betroffenen in Deutschland.In allen führenden Medien wird nun nicht nur über die Corona-Pandemie, sondern auch über die weitverbreitete, aber ignorierte Erkrankung ME/CFS berichtet. Und das Versorgungsdesaster, das nun auch Post-COVID-19-Patienten erleiden, kommt ans Licht.

      Oved Amitay, Geschäftsführer der gemeinnützigen US-amerikanischen Interessenvertretung Solve M.E. beschreibt die Situation:

      „Schon jetzt sind etwa 2,5 Millionen Amerikaner an ME/CFS erkrankt und COVID-19 ist auf dem besten Weg, diese Zahl zu verdoppeln. Die Finanzierung von Bildung, Forschung und Behandlung rund um Long COVID und damit verbundene postvirale Krankheiten wie ME/CFS ist keine Option, sondern nicht verhandelbar. Die Gesundheit unserer Nation hängt davon ab.“ [Ü.d.A.] E/4 Solve M.E.

      Der Handlungsbedarf ist nun nicht mehr zu leugnen. Zu den geschätzt 74.000 Post-Covid-19-ME/CFS Patienten kommen Patienten, die ähnliche (schwerwiegende) Beschwerden haben, aber die ME/CFS-Kriterien nicht vollständig erfüllen. Und je länger die Pandemie andauert, desto mehr Betroffene sind zu erwarten. Die Corona-Pandemie erhöht deutlich die Gesamtzahl der multisystemisch erkrankten Patienten. Das tatsächliche medizinische und wirtschaftliche Ausmaß, z.B. welche Kosten auf die Sozialversicherungs-Systeme zukommen, ist unklar.

      Der US-Kongressabgeordnete (und Chefankläger im Amtsenthebungsverfahren gegen Ex-US-Präsident Donald Trump im Februar 2021) Jamie Raskin hat sich erfolgreich für eine millionenschwere Forschungs-Förderung zu postviralen Erkrankungen eingesetzt und erklärte in einer Pressemitteilung in Bezug auf Versäumnisse in der ME/CFS-Forschung:

      „Wir stehen vor einer monumental gefährlichen Krise der öffentlichen Gesundheit und müssen alle notwendigen Schritte unternehmen, nicht nur um die Ausbreitung von COVID-19 einzudämmen, sondern auch, um dauerhafte Auswirkungen zu verhindern und zu kontrollieren“ [...] „Wir können nicht zulassen, dass die Zahl der ME/CFS-Fälle aufgrund mangelnder Forschung und mangelnden Verständnisses steigt. Während wir das Coronavirus bekämpfen, wird diese bedeutsame Gesetzgebung uns helfen, auf die verborgene ME/CFS-Gesundheitskrise zu reagieren.“ [Ü.d.A.] E/5 Raskin

      In den USA wurden im Dezember 2020 Forschungsgelder in Höhe von 1,15 Milliarden Dollar für die Covid-Langzeitforschung bewilligt, die bis 2024 zur Verfügung stehen.

      Das Bundesministerium für Forschung und Bildung lancierte im Mai 2021 die Förderrichtlinie Richtlinie zur Förderung von Forschungsvorhaben zu Spätsymptomen von COVID-19 (Long-Covid). Damit stehen fünf Millionen Euro stehen für interdisziplinäre Forschungsvorhaben zu Spätsymptomen von COVID-19 zur Verfügung. Patienten-Organisationen und Wissenschaftler kritisieren, dass diese Förderung bei weitem nicht ausreicht.

      Die Doppelte Krise

      Die offensichtliche Corona-Pandemie und die Folge-Pandemie der schwer zu klassifizierenden postviralen Langzeitwirkungen stellen eine doppelte Krise dar. Die Folge-Pandemie der Langzeit-Erkrankungen offenbart, was schon lange existent war, aber ignoriert wurde.

Cluster-Ausbrüche von ME/CFS sind weder neuartig noch historisch selten. Sie wurden häufig beschrieben und wenig untersucht.

      Unklar ist unter anderem, ob der Auslöser der ME/CFS-Cluster immer viral war oder auch anderer Natur. Offensichtlich ist jedoch, dass der jeweilige Auslöser bei jedem der historischen Cluster-Ausbrüche auf eine weitverbreitete immunologische, genetische und/oder metabolische Disposition traf, die vulnerabel machte. Was bedeutet das für zukünftige


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