Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith

Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith


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Bislang wird die Medizin organzentriert verstanden, der Patient wird nach Herz, Nieren oder Gehirn von spezialisierten Behandlern diagnostiziert und behandelt. Der Kieler System-Mediziner Prof. Stefan Schreiber formuliert treffend:

      „Die Spezialisierung der Medizin entspricht nicht der biologischen Wirklichkeit.“ E/6 Schreiber

      Allerorten stößt man auf komplexe Kreisläufe, Wechselwirkungen, multiple Funktions- und Rückkopplungsschleifen, ja, sogar auf regelrechte Teufelskreise. Diese Kausalbeziehungen sind hochgradig verzweigt und komplex.

      Die Systembiologin Prof. Ursula Klingmüller beschrieb schon im Jahr 2015:

      „Noch vor zehn, 15 Jahren dachten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Wie der Lebensprozesse überwiegend linear: Ein Gen veranlasst die Produktion eines Proteins, und das Protein tut etwas in einer bestimmten Weise. Diese Geradlinigkeit findet sich noch heute in fast allen Lehrbüchern, aber sie reicht nicht aus, um die tatsächlichen Lebensereignisse in einer Zelle zu beschreiben, die einem brodelnden Suppentopf mit Zigtausenden von Ingredienzen gleicht, die in vielfältiger Weise miteinander wechselwirken.“ E/7 Klingmüller

      Unser Bahnverkehr ist ein vergleichbar komplexes System. Wir haben alle schon erfahren, was es bedeutet, wenn es z. B. auf einer Strecke zu Sturmschäden kommt. Der Intercity bleibt stehen, die Anschlüsse sind nicht mehr zu halten. Auch der Folgeverkehr kommt zum Erliegen. Fällt gleichzeitig an einer anderen Stelle ein Stellwerk aus, ist das Chaos komplett, weil das Gesamtsystem nur funktionieren kann, wenn die einzelnen Linien funktionieren.

Unterschiedlichste Stressoren können in diesem Sinne vergleichbare „Sturmschäden“ in unserem Gesamt-Organismus verursachen. Diese Entgleisungen bleiben bei den üblichen Routine-Untersuchungen nahezu vollständig verborgen.

      Systemmedizin

      Im Februar 2015 veröffentlichte das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Zusammenarbeit zur Förderung transnationaler Forschungsprojekte in der Systemmedizin eine Bekanntmachung, die der Etablierung der Systemmedizin in Europa dient und eine klare Sprache spricht:

      „Der systemmedizinische Ansatz, der Krankheitsprozesse als komplexes Zusammenspiel verschiedener biologischer Netzwerke auf verschiedenen Ebenen untersucht (Zell-, Gewebe-, Organ- und Organismusebene), unterscheidet sich grundlegend von der gängigen Praxis der klassischen und Symptom-orientierten Medizin. Diese greift häufig erst dann, wenn eine Erkrankung bereits ausgebrochen ist. In der Vergangenheit haben Ärztinnen und Ärzte stets klinische Beobachtungen, empirisches Wissen und Informationen aus medizinischen Tests zusammengeführt, um Krankheiten zu diagnostizieren und Patienten erfolgreich zu behandeln. Dieses Konzept hat sich im Prinzip bewährt. Das Problem besteht aktuell darin, dass der ärztlichen Fähigkeit zur Sichtung, Auswertung und Annotation von Wissen durch den starken Anstieg verfügbarer relevanter Informationen, die Größe und Komplexität moderner „-omics“-Technologie-Datensätze und der Fülle klinischer Informationen zunehmend Grenzen gesetzt sind. Das etablierte System der Wissensakquise verfügt über kein weiteres Ausbaupotenzial.“ E/8 BMBF

      Das Bundesministerium für Bildung und Forschung/BMBF förderte die Systemmedizin seit Ende 2012 mit 200 Millionen Euro. Prof. Johanna Wanka, die damalige Bundesministerin für Bildung und Forschung beschrieb 2015 die Zielsetzung des neuen Medizinverständnisses:

      „Die Systemmedizin will die Erkenntnisse und Methoden der Systembiologie auf die Medizin übertragen und für Patientinnen und Patienten nutzbar machen. Das Ziel der Systemmedizin ist es, auf der Grundlage des neuen, interdisziplinär erarbeiteten Wissens neue Präventionsstrategien, Diagnostika und Therapeutika zu entwickeln. Denn ob ein Mensch gesund oder krank ist, hängt von vielen Faktoren ab, seien es genetische Unterschiede, die Veränderung von Molekülen oder Umwelteinflüsse. Die Frage ist, wie all diese Faktoren und Systeme ineinandergreifen und wie sie zu beeinflussen sind.“ E/9 BMBF 2015

      Prof. Stefan Schreiber äußerte sich zu der Bedeutung der Systemmedizin:

      „Persönlich bin ich überzeugt davon, dass wir derzeit mitten in einem Prozess stecken, der vieles umstürzen wird, was für unumstößlich gehalten wurde. Das ist ein radikaler Paradigmenwechsel. Und nur das kann echte Innovationen hervorbringen. Das Revolutionäre, dass in dem neuen Konzept der Systemmedizin steckt und die Chancen, die mit ihm einhergehen, haben noch nicht alle Teilnehmer im Feld verstanden – aber es werden immer mehr.“ E/10 Schreiber

      Derzeit wird die systemmedizinische Herangehensweise fast ausschließlich in der Krebsforschung angewandt und führt dort zu individualisierten Therapien.

Wir werden sehen, dass Erworbene multisystemische (Komplex-)Erkrankungen nur mit Hilfe einer systemmedizinischen, transdisziplinären Herangehensweise verstanden werden können.

      Veränderte Umweltfaktoren

      Mittlerweile befassen wir uns zwangsläufig mit mehreren Krisen, die nicht länger ignoriert werden können. Die scheinbare Robustheit unserer Lebensgrundlagen hat uns blind gemacht für die Folgen unseres unstillbaren Hungers nach Konsum und Annehmlichkeiten. Das Artensterben, die abnehmende Biodiversität, Wald- und Ackerdürren, die Erderwärmung und der Raubbau an der Natur werden bislang nicht in ihrer vollen Dramatik wahrgenommen:

      „Menschliches Handeln gestaltet den ganzen Planeten um. Es dringt bis in die letzten Ecken vor. Schon jetzt sind die Eingriffe des Menschen pro Jahr größer und umfassender als die aller anderen Naturkräfte zusammen. Der Mensch ist die größte Naturkraft. Gleichzeitig schreibt er sich durch sein Tun in die geologische Zeit ein. Die Eingriffe verändern den Planeten nicht für Generationen, sondern für hunderttausende von Jahren. Menschheitsgeschichte wird Erdgeschichte. An die Stelle der Historiker treten Geologen.“ E/11 Scherer

      So der Philosoph und Autor Bernd Scherer. 2015 erschien in Co-Autorenschaft mit Jürgen Renn, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in München, das Buch Das Anthropozän: Zum Stand der Dinge. Der Begriff „Anthropozän“ – das Zeitalter des Menschen – wird mittlerweile von einer Gruppe renommierter Wissenschaftler für das gegenwärtige Erdzeitalter vertreten. Gemeint ist damit, dass der Mensch als dominierender Faktor durch menschengeschaffene Technologien und Infrastrukturen unsere Lebensbedingungen und die globalen Umgebungsfaktoren nachhaltig verändert hat.

Weit überwiegend sind heutige industriell anfallende oder produzierte Partikel, Strahlen, Gase und Substanzen – von Feinstaub über elektromagnetische Strahlung bis zu erdölbasierten Produkten und (Klima-)Gasen – nachweislich oder vermutlich gesundheitsschädigend.

      Veränderte Krankheiten

Kann es sein, dass diese veränderten Umweltfaktoren schleichend unsere grundlegenden Lebensfunktionen und damit unsere (Über-)Lebenstüchtigkeit verändern? Kann es sein, dass wir diese Veränderungen nicht begreifen, weil sie immer nur graduell unsere Gesundheit verändern? Weil sie komplex ablaufen, Ursachen und Wirkungen kaum fassbar sind? Haben wir es bei unserer Gesundheit mit ebenso komplexen Wirkungen zu tun wie bei der Erderhitzung?

      Prof. Naviaux macht darauf aufmerksam, dass die Antwort auf Zellgefahren vorindustriell in der Regel vollständig durchlaufen wurde und mit der Gesundung endete, während dieser Heilungsprozess heute blockiert wird und zu der Vielzahl chronischer Erkrankungen führt. Laut Prof. Naviaux erfordern heutige Erkrankungen ein völlig anderes Konzept, er spricht von einem „zweiten Buch der Medizin“.

Vorindustrielle Erkrankungen gleichen den heutigen so wenig wie Äpfel den Birnen, erklärte Naviaux bildlich in einem Vortrag.

      Die Grundthese des Buches, das Sie gerade lesen, ist, dass die Fülle moderner Stressoren als „multistressorische“ Gesamtlast“ (Umweltallergene, Schadstoffe, Zusatzstoffe in Nahrungsmitteln, psychosoziale Belastung, ständige Erreichbarkeit u.a.) an Quantität und Qualität ein Ausmaß erreicht haben, das durch die synergistische Dauer-Reizung unser Immunsystem überfordert und zu einer allmählichen oder plötzlichen gesundheitlichen Kapitulation führt.

Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen können als die medizinische Signatur des Anthropozän verstanden werden. Die maximale biologische, psychische und chemische Belastbarkeit wird ständig überschritten, der Organismus
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