Die Bestie im Menschen. Emile Zola

Die Bestie im Menschen - Emile Zola


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sah zunächst den dunklen Schlund sich erhellen, wie die Oeffnung eines Backofens, in welchem das Reisig entzündet wird. Das Geräusch näherte sich, plötzlich sprang die Lokomotive daraus hervor mit ihrem großen runden, blendenden Auge, deren Licht die Gegend zu durchdringen suchte und auf den Schienen weit voraus schon ein zweites Feuer zu entzünden schien. Aber das Ganze war eine blitzartige Erscheinung, denn vorüber flüchtete die Reihe von Waggons mit ihren grell beleuchteten Koupeefenstern, vorüber sausten die mit Reisenden gefüllten Koupee's mit einer so schwindelerregenden Schnelligkeit, daß das Auge unmittelbar an den gesehenen Bildern zweifelte. Aber Jacques hatte in dieser Viertelsekunde dennoch durch die hellerleuchteten Scheiben eines Koupee's gesehen, wie ein Mann einen zweiten auf den Sitz niedergedrückt hielt und ihm ein Messer in den Hals stieß, während eine schwarze Masse, vielleicht eine dritte Person, vielleicht heruntergestürztes Gepäck, mit ihrem ganzen Gewicht auf den krampfhaft angezogenen Beinen des Opfers lastete. Schon entfloh der Zug und verschwand in der Richtung von la Croix-de-Maufras, und man sah in der Dunkelheit nichts weiter mehr von ihm als die drei Schlußlaternen, das rothe Dreieck.

      Wie auf den Platz gebannt folgten die Blicke des jungen Mannes dem Zuge, dessen Brausen in dem großartigen Frieden des Todes, der auf der Gegend ruhte, erstarb. Hatte er wirklich richtig gesehen? Er zweifelte jetzt daran und wagte nicht mehr die ihm wie vom Blitze zugetragene und von ihm entführte Begebenheit als eine Thatsache zu behaupten. Kein einziger Gesichtszug der beiden Hauptacteure dieses Dramas stand ihm lebendig vor der Erinnerung. Die dunkle Masse war vielleicht eine über den Körper des Opfers gefallene Reisedecke. Und doch war es ihm, als hätte er unter einer aufgelösten Menge dichten Haares ein feines, bleiches Profil erkannt. Aber alles mischte sich in einander und verflog wie ein Traum. Noch einmal trat das vermeintliche Profil vor seine innern Blicke, dann verlor er es ganz und gar. Das Ganze war wahrscheinlich überhaupt nur eine Einbildung. Alles das aber machte sein Mark erstarren; er gab schließlich selbst zu, daß es eine Sinnestäuschung gewesen sein mochte, welche die schreckliche Krisis seines Zustandes heraufbeschworen hatte.

      Fast eine ganze Stunde noch trieb sich Jacques, den Kopf mit wüsten Gedanken voll, auf den Feldern umher. Er war wie zerschlagen, eine Art Entnervung hatte ihn befallen, das eisige Gefühl in seinem Innern hatte das Fieber ausgelöscht. Er kam schließlich, ohne es gewollt zu haben, nach la Croix-de-Maufras zurück. Als er vor dem Bahnwärterhäuschen stand, überlegte er, daß es besser sei, nicht einzutreten, sondern in der kleinen Hütte neben dem Schuppen zu schlafen. Aber ein Lichtstrahl drang durch die Thür und mehr unbewußt als bewußt öffnete er. Ein unerwarteter Anblick bannte ihn auf die Schwelle.

      Misard hatte in der That den in der Ecke stehenden Buttertopf von seinem Platze gerückt. Mit allen vieren lag er auf dem Boden, neben sich hatte er eine Laterne stehen und mit der Faust pochte er leise an verschiedene Stellen der Wand. Das Geräusch der aufgehenden Thür ließ ihn den Kopf zurückwenden. Er zeigte aber keine Spur von Verlegenheit und sagte höchst gelassen:

      »Ich suche Streichhölzchen auf, die mir heruntergefallen sind.«

      Als er nun den Buttertopf wieder an Ort und Stelle gebracht hatte, setzte er hinzu:

      »Ich habe mir eben die Laterne geholt, weil ich beim Nachhausegehen ein Individuum habe auf den Schienen liegen sehen ... Ich glaube, er ist todt.«

      Jacques hatte der Gedanke, Misard beim Suchen nach Tante Phasie's Schatz ertappt zu haben, fast übermannt. Aber die jähe Gewißheit, daß sein Zweifel grundlos und die Beschuldigungen der Tante berechtigte waren, wurde durch die Neuigkeit von dem Funde eines Leichnams sofort verdrängt. Er vergaß das zweite Drama, das sich hier in diesem abseits von der Welt gelegenen Häuschen abspielte. Die Szene im Koupee, die kurze Vision von der Ermordung eines Mannes durch einen zweiten tauchte mit blitzartiger Schnelligkeit wieder vor ihm auf.

      »Ein Mensch auf der Strecke, wo denn?« fragte er erbleichend.

      Misard war nahe daran zu erzählen, daß sich zwei Aale in seinen Netzen gefangen hätten, die er vorhin im Galopp nach Hause getragen habe, um sie zu verstecken. Aber wozu sich diesem Knaben anvertrauen? Er machte daher nur eine unbestimmte Bewegung und erwiderte:

      »Dort unten, vielleicht fünfhundert Meter von hier ... Weiter weiß ich nichts, müssen mal erst die Sache bei Licht betrachten.«

      Jacques hörte in diesem Augenblicke über sich eine dumpfe Erschütterung. Er war so geängstet, daß er zusammenfuhr.

      »Das ist nichts,« sagte der Vater, »Flore rumort wahrscheinlich.«

      Der junge Mann hörte jetzt in der That das Umhertappen zweier nackter Füße auf dem Estrich. Sie hatte zweifellos auf ihn gewartet und durch ihre nur halbgeschlossene Thür ihn kommen gehört.

      »Ich begleite Euch,« sagte Jacques .. »Ihr glaubt wirklich, daß er todt ist?«

      »Zum Teufel auch, mir scheint es so. Die Laterne wird es ja zeigen.«

      »Und was haltet Ihr davon? Ein Unfall wahrscheinlich?«

      »Vielleicht. Irgend einen Strick, der sich hat überfahren lassen, oder vielleicht auch ein aus dem Koupee gesprungener Reisender.«

      Jacques überlief es kalt.

      »Kommt schnell, kommt schnell!«

      Noch nie hatte ihn das Fieber, zu sehen und wissen zu wollen, so gepackt. Während sein Gefährte vollständig gleichgiltig auf dem Eisenbahndamm dahinschritt, wobei die Laterne hin- und her schwankte, deren runde Helle sanft an den Schienen entlang glitt, lief er voraus. Diese Langsamkeit ärgerte ihn. Ihn trieb ein physisches Verlangen, dieselbe Gluth, welche den Gang der Liebenden zum Stelldichein beflügelt. Er empfand Furcht vor dem ihn erwartenden Anblick und doch flog er mit gespannten Muskeln dorthin. Als er an Ort und Stelle anlangte, fiel er beinahe über die dicht neben den Schienen liegende dunkle Masse. In seiner Aufregung konnte er nichts deutlich erkennen. Fluchend rief er dem Anderen zu, der noch mehr als dreißig Schritt zurück war:

      »So beeilt Euch doch, in des Teufels Namen. Vielleicht kann man ihm noch helfen, wenn er noch lebt.«

      Misard aber schwankte gemächlich weiter. Als er endlich seine Laterne über den Körper des Verunglückten hielt, sagte er:

      »O je, der hat seinen Theil.«

      Das zweifellos aus dem Waggon gestürzte Individuum war höchstens fünfzig Centimeter von den Schienen entfernt mit dem Gesicht nach dem Boden auf den Leib gefallen. Man sah von seinem Kopfe nur den mit dichten weißen Haaren bedeckten hintern Theil. Seine Beine lagen gespreizt. Sein rechter Arm schien wie ausgerenkt, der andere lag unter der Brust. Sein Anzug verrieth einen Angehörigen der bessern Stände. Er trug einen weiten Paletot von blauem Tuch, elegante Stiefel und seine Wäsche. Der Körper zeigte keine Spuren der Vergewaltigung, nur war viel Blut aus einer Halswunde geronnen und hatte den Hemdkragen besudelt. »Ein Bürger, der sein Fett fort hat,« bemerkte Misard nach einigen Minuten lautloser Prüfung.

      »Faßt ihn nicht an, das ist verboten,« sagte er dann zu Jacques, der mit offenem Munde sich nicht zu rühren wagte. »Bewachen Sie ihn, ich will inzwischen nach Barentin laufen und den Bahnhofsinspector benachrichtigen.«

      Er hob seine Laterne in die Höhe und sah nach dem Kilometerpfahl.

      »Schön, gerade bei Pfahl 153 also.«

      Er stellte die Laterne auf den Boden neben die Leiche und entfernte sich schleppenden Schritts.

      Jacques bewegte sich nicht, als er allein war. Er blickte unentwegt auf diese träge am Boden liegende Masse, deren Umrisse das flackernde Licht kaum erkennen ließ. Die Aufregung, die vorhin seine rasende Wanderung veranlaßt, der fürchterliche Magnet, der ihn hier festbannte, sie weckten in ihm den gleichen scharfen, sein ganzes Wesen durchblitzenden Gedanken: der andere, der mit dem Messer zugestoßen, der hatte es gewagt! Der war bis an's Ziel gelangt, der hatte getödtet! O nur nicht feige sein, seinen Sinn befriedigen und dann tief hinein das Messer! Seit zehn Jahren marterte ihn dieser Gedanke. Sein Fieber malte ihm eine Verachtung seiner selbst, eine Bewunderung für den Anderen vor, besonders aber das unstillbare Verlangen, zu sehen und die Augen zu weiden an diesem menschlichen Fetzen, diesem zerbrochenen Hanswurst, diesem Waschlappen,


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